Abteilungsspezifische Anforderungsprofile

Diagnostische Pfade in der Labormedizin

Das Universitätsinstitut für Klinische Chemie im Inselspital Bern und die OSM GmbH verfolgen einen innovativen Ansatz zur Etablierung evidenzbasierter Entscheidungsbäume in der Laboratoriumsmedizin.

Laborinstitute bieten klinisch tätigen Ärzten eine ständig wachsende Zahl von Untersuchungen an. Deshalb ist nicht nur aus medizinischen, sondern auch aus ethischen und ökonomischen Gründen eine effiziente Indikationsstellung geboten. Um einen rationalen Einsatz labormedizinischer Leistungen zu gewährleis­ten, wurden diagnostische Leitlinien entwickelt, die in der Regel hierarchisch organisierte Entscheidungsbäume im Sinne einer Stufendiagnostik beinhalten. Die diesem Prozess zugrunde liegenden Algorithmen bezeichnet man auch als diagnostische Pfade (siehe: Hofmann, Aufenanger, Hoffmann: Klinikhandbuch Labordiagnostische Pfade.
De Gruyter Verlag 2014
).
Im Universitätsinstitut für Klinische Chemie des Inselspitals Bern (Direktor: Prof. Dr. Martin Fiedler) wurde dieses Verfahren auf den Prüfstand gestellt, um den rationalen Einsatz labormedizinischer Kenngrößen zu verbessern. Daraus entstand ein neues Konzept, über das Prof. Gurr mit Privatdozent Dr.  Alexander Leichtle, dem Leiter dieses Projekts in Bern, sprach.

Prof. Gurr:
Herr Dr. Leichtle, Sie verfolgen einen neuen Ansatz zum rationalen Einsatz von Laboruntersuchungen. Warum?

Dr. Leichtle:
Diagnostische Leitlinien werden aus wissenschaftlichen Publikationen, aus den Empfehlungen medizinischer Fachgesellschaften und den Empfehlungen nationaler und internationaler labormedizinischer Fachgesellschaften abgeleitet. Im Grunde handelt es sich dabei meist „nur“ um abgestimmte Expertenmeinungen, deren Evidenz nicht immer statistisch nachvollziehbar ist.

Prof. Gurr:
Was kennzeichnet denn Ihren Ansatz?

Dr. Leichtle: Wir verknüpfen die Labordaten, die bei der Aufnahme erhoben wurden und in Opus::L, unserem Labormanagementsystem, vorliegen, mit den tatsächlichen Diagnosen, die bei den Patienten in ICD-10 verschlüsselt wurden. In einem aufwendigen, computerbasierten Iterationsprozess werden die Wahrscheinlichkeiten, mit denen jede einzelne Kenngröße zu jeder kodierten Diagnose beiträgt, geprüft. Am Ende dieses Iterationsprozesses erhält man also anstelle einzelner, separat betrachteter Kenngrößen einen ganzen Satz selektiver Analyte, der streng evidenzbasiert ist – und das spezifisch für das Krankengut unserer Klinik.

Prof. Gurr: Gibt es schon Anwendungsbeispiele?

Dr. Leichtle: In einer kleinen Pilotstudie haben wir bei Patienten der Intensivstation, insgesamt 459 Myokardinfarkte und 2.966 Kontrollen, analysiert. Routinemäßig wurden bei Aufnahme 14 Kenngrößen gemessen. Wir prüften nun, mit welcher Wahrscheinlichkeit welches Testergebnis zur Diagnose beitrug. Es zeigte sich, dass den drei Kenngrößen CK, LDH und Troponin die maximal mögliche Evidenz zukam.

Prof. Gurr: Wo sehen Sie die Vorteile Ihrer Vorgehensweise? Auch bislang sind diese Kenngrößen ja in der Diagnostik des Myokardinfarkts durchaus etabliert.

Dr. Leichtle: Genau das ist der Punkt: Unser Algorithmus findet diese klassischen Infarktmarker, ohne etwas über Pathophysiologie und diagnostische Strategien zu wissen. Deshalb kann man sagen: Empfehlungen, die aus unserer Vorgehensweise resultieren, sind aus unseren eigenen, vollständigen Daten errechnet und basieren damit auf numerischer Evidenz. Darüber hinaus gibt es noch einen weiteren Vorteil: In spezialisierten Abteilungen ist die Vortestwahrscheinlichkeit für bestimmte Erkrankungen – in der Kardiologie zum Beispiel für einen Herzinfarkt – größer als in einer allgemeinen Notaufnahme. Diese Wahrscheinlichkeit beeinflusst die Auswahl des Panels.

Prof. Gurr: Sie meinen, dass das labordiagnostische Vorgehen bei Verdacht auf Herzinfarkt in kardiologischen Aufnahmestationen anders sein sollte als in der Allgemeinchirurgie?
Dr. Leichtle: Korrekt. Exakt das können wir mit unserem evidenzbasierten Ansatz zeigen. Wir werden also für die häufigsten Verdachtsdiagnosen abteilungsspezifische Sätze von Kenngrößen zur Verfügung stellen. Wegen der unterschiedlichen Vortestwahrscheinlichkeiten können sich diese Panels durchaus unterscheiden – anders als bei den üblichen Leitlinien, die solche Unterschiede nicht abbilden.

Prof. Gurr: Wie werden Sie sicherstellen, dass die neuen Möglichkeiten von Ihren Einsendern auch genutzt werden? Die Mathematik dahinter ist für einen Mediziner ja kaum nachvollziehbar.

Dr. Leichtle: Wir planen, in unserem Anforderungssystem nicht nur die Kenngrößen auszuweisen, sondern die evidenzbasierten Anforderungsprofile für die jeweiligen Diagnosen in Form von Empfehlungen zu hinterlegen. So ist gewährleistet, dass jede Abteilung oder Station mit einem Klick ihren spezifischen Satz von Laboranforderungen generieren kann.

Prof. Gurr: Wie schätzen Sie die Akzeptanz bei den Einsendern für innovative diagnostische Strategien ein?

Dr. Leichtle: Die Akzeptanz diagnostischer Empfehlungen ist erfahrungsgemäß je nach Klinik sehr unterschiedlich. Wir sehen zu unserem großen Bedauern, dass der Effekt klassischer Weiterbildungen in der Regel nur kurz anhält. Deshalb hoffen wir, die Akzeptanz deutlich zu verbessern, wenn wir den Einsendern nicht beizubringen versuchen, welche Tests sie auf welcher Station für welche Fragestellung anfordern sollen, sondern stattdessen das Anfordern auf eine höhere Ebene verlagern, nämlich auf das Markieren von Diagnosen.

Prof. Gurr: Für die Ermittlung der evidenzbasierten Anforderungssätze müssen Sie große Datensätze aus Ihrem Laborinformationssystem exportieren, mit einem zweiten Rechner verarbeiten und die Ergebnisse anschließend wieder importieren – ein aufwendiges Verfahren.

Dr. Leichtle: Wir arbeiten seit geraumer Zeit mit dem Labor­managementsystem Opus::L von OSM. Die Daten befinden sich alle in der Datenbank, mit der unsere Software von den Softwareentwicklern der Firma derzeit verknüpft wird.
Am Ende wird der gesamte Prozess über die Oberfläche von Opus::L gesteuert: die Auswahl der Datensätze aus der Datenbank wie auch die Berechnungen und Darstellung der Ergebnisse. Dadurch wird die Ermittlung der evidenzbasierten Kenngrößensätze für die einzelnen Abteilungen stark vereinfacht.

Prof. Gurr: Wie schätzen Sie die Entwicklung diagnostischer Pfade in der Zukunft ein?

Dr. Leichtle: Ich halte eine Entwicklung weg von Konsensus- und Review-gestützten und hin zu Evidenz-basierten Pfaden für wahrscheinlich und wünschenswert. Die Labormedizin verfügt über riesige Datenbanken, aus denen die für die jeweilige Klinik und das jeweilige Patientengut optimalen Parameterkombinationen errechnet werden können. Diese beruhen dann nicht mehr auf Expertenmeinungen, sondern auf echten Daten.
Dieses Potenzial liegt heute noch weitgehend brach. Mit einem gut funktionierenden Handwerkszeug, wie es nach der Integration in Opus::L zur Verfügung stehen wird, ist das eine gut zugängliche Schatztruhe für die Zukunft.

Prof. Gurr: Danke, dass wir einen Blick in Ihre „Werkstatt“ werfen durften. Sie haben uns ein wichtiges und zukunftsträchtiges Projekt vorgestellt. Vielen Dank für das Gespräch.


OSM Vertrieb GmbH, Essen

Jacqueline Savli, Geschäftsführerin

www.osm-gruppe.de


Autorenkontakt

Prof. Dr. Eberhard Gurr

Klinikum Links der Weser, Bremen