Besserer Durchblick in kritischen Situationen

Diagnostik akuter Hämostasestörungen

Gerade in der Hämostaseologie kommt es immer wieder zu lebensbedrohlichen Komplikationen, die eine rasche und zugleich differenzierte Diagnostik erfordern. Dafür ist heute eine umfangreiche Palette an Testverfahren verfügbar, die man auch vor Ort durchführen kann.

Störungen der Hämostase können bei Operationen, traumatischen Blutungen, Thromboembolien oder Sepsis zu schwerwiegenden Komplikationen führen. Allen diesen Zuständen gemeinsam ist eine Aktivierung der Thrombozyten, der plasmatischen Gerinnung und der Fibrinolyse – allerdings je nach Ursache mit sehr unterschiedlichen Folgen.
In jedem Fall benötigt der Patient für die schnelle Therapie eine differenzierte Diagnostik vor Ort, da man zunächst einmal traumatische bzw. iatrogene Blutungen von Hämostasestörungen abgrenzen muss, und dann auf rasche Änderungen des Bildes durch Medikamente, Dilution, pH-Verschiebungen u. ä. ebenso rasch und differenziert reagieren muss.
Das Zentrallabor kann die benötigten Informationen naturgemäß nur mit Verzögerung liefern, und zudem ist die Aussagekraft der klassischen Gerinnungstests nur mäßig. Probleme wie die extrem gefährliche Hyperfibrinolyse, Defekte der Fibrinpolymerisation oder Thrombozytenfunktionsstörungen sind mit den üblicherweise auf Laborautomaten verfügbaren Methoden nur schwer bis gar nicht zu erfassen. 

Test ohne Probenvorbereitung

Bei den patientennah einsetzbaren Methoden wird in der Regel mit Zitrat anti­koaguliertes Vollblut als Probe eingesetzt, in einigen Systemen auch natives Blut oder Kapillarblut. Entscheidend für die Durchführung am Point of Care ist der Wegfall der Zentrifugation und anderer Probenvorbereitungsschritte, die Laborerfahrung voraussetzen.
Die wichtigsten Verfahren für die Akut­diagnostik vor Ort sind
• viskoelastische Tests,
• Thrombozytenfunktionstests und
• Tests der plasmatischen Gerinnung.
Zur dritten Gruppe gehören vor allem die Globaltests Quick/PT (Prothrombin Time), aPTT (Activated Partial Thromboplastin Time) sowie ACT (Activated Clotting Time).
Die Interpretation der Ergebnisse in Akutsituationen ist nicht trivial; zu berücksichtigen sind unter anderem intraoperative Verdünnungseffekte und pH-Wert des Blutes, ein pathologisch niedriger Hämatokrit und spezifische Wirkungen von Plasmaexpandern. Ferner liefert die Kenntnis von Thrombozytenzahl und Hämatokrit ein besseres Verständnis der Gesamtsituation, sodass ein patientennah erstelltes Blutbild immer sinnvoll ist.

Messungen im Vollblut

Den umfassendsten Überblick über die hämostatische Situation erhält man mit viskoelastischen Verfahren, die thrombozytäre und plasmatische Prozesse der Gerinnselbildung, -verfestigung und -auflösung erfassen. So kann man in wenigen Minuten einen Gerinnungsfaktormangel, Heparineffekte, eine Hyperfibrinolyse, eine globale Störung der Thrombozytenfunktion oder einen erworbenen Fibrinogenmangel erkennen (Abb. links). Daraus leitet sich dann eine rasche, nach Möglichkeit kausale Behandlung ab.
Die verfügbaren Methoden gehen auf die früher in Speziallaboratorien verbreitete Thromb­elastografie (TEG nach Hartert) zurück. In Europa hat sich vor allem die sog. Thromb­elastometrie durchgesetzt; sie zeigt nicht nur (wie die üblichen Gerinnungstests) an, wann das Blut gerinnt, sondern auch wie es gerinnt, und ob das Gerinnsel stabil wird und bleibt (siehe Abbildung). Nicht erfasst werden aber Effekte der Aggre­gationshemmer und des Von-Willebrand-Faktors (VWF); Vitamin-K-Antagonisten und direkte orale Antikoagulanzien beeinflussen die Tests, führen aber oft zu weniger pathologischen Ergebnissen als beispielsweise PT und aPTT.

Thrombozytenfunktion

Thrombozytenfunktionstests sind bei akuten Gerinnungsstörungen sinnvoll, denn Thrombozytenzahlen allein können trügerisch sein: Sie lassen nicht erkennen, ob die Adhäsion, Aggregation und Sekretion der Plättchen normal oder pathologisch bzw. therapeutisch (durch Aggregationshemmer) verändert ist.
Die Fähigkeit der Thrombozyten, einen Plättchenthrombus zu bilden, kann optisch (Trübung), mechanisch (Druck) und elektrisch (Impedanz) gemessen werden. Dabei unterscheiden sich die verschiedenen Verfahren nicht nur hinsichtlich ihrer Praktikabilität, sondern auch in der klinischen Aussagekraft.
Allen Systemen gemeinsam ist, dass sie die therapeutischen Effekte von Aggregationshemmern erkennen; Unterschiede bestehen hinsichtlich der Erfassung von Adhäsions- und Sekretionsstörungen sowie der Wirkung von VWF. Die Ergebnisse hängen zudem von der Menge der eingesetzten Thrombozyten ab; bei Thrombozytenzahlen unter 100.000 pro µl ist die Interpretierbarkeit der meisten Verfahren eingeschränkt. Eine detaillierte Beschreibung der Aussagekraft der wichtigsten in Deutschland verfügbaren Systeme mit Fokus auf den POC-Einsatz findet sich auf der nächsten Doppelseite.

Plasmatische Gerinnung

Die Bedeutung der klassischen Gerinnungstests PT und aPTT zum präoperativen Ausschluss einer vermehrten Blutungsneigung wird oft überschätzt. Die Ergebnisse der beiden Tests korrelieren oft nur mäßig, aber beiden gemeinsam ist, dass sie einen Fibrinogenmangel erst dann erkennen, wenn fast alles verbraucht ist. Zum Zeitpunkt der Gerinnselbildung liegen nämlich erst wenige Prozent des theoretisch produzierbaren Thrombins in aktiver Form vor, während für ein hinreichend stabiles Gerinnsel eine viel größere Thrombinmenge erforderlich ist. Auch eine Hyperfibrinolyse sowie ein klinisch bedeutsamer Fibrinogenmangel sind kaum zu erkennen, insbesondere dann nicht, wenn noch andere Gerinnungsstörungen vorliegen. VWF und FXIII gehen gar nicht in das Ergebnis ein.
Vorsicht ist bei den neuen direkten oralen Antikoagulanzien geboten. Diese beeinflussen Gerinnungstests oft sehr viel weniger, als anhand der Plasmaspiegel zu erwarten wäre. Daher können PT, aPTT und ACT weder am Point of Care noch im Labor sicher erkennen, ob ein Patient therapeutische Spiegel dieser Substanzen hat (s. hier).
Bei der ACT hängt die Gerinnungszeit von der Aktivität der Gerinnungsfaktoren und vom Heparinspiegel, kaum aber vom Fibrinogenspiegel oder der Thrombozytenzahl und -funktion ab. Auch wenn die Korrelation zur Heparinkonzentration nur mäßig ist, wird der Test zum Management von hohen Heparinspiegeln bei großen Opera­tionen (Herz-Lungen-Maschine) eingesetzt. Auch die neutralisierende Wirkung von Protaminsulfat lässt sich damit verfolgen. Wegen der intraindividuellen Streubreite sollte man vor Beginn der Heparinisierung einen Ausgangswert messen.


Dr. Hans-Jürgen Kolde

Consulting Diagnostics, Biomedicine, Lifesciences

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