Immunosensing – unser sechster Sinn

Hellwach, auch wenn wir schlafen

Rezeptoren für Krankheitskeime und Zellschäden findet man nicht nur auf klassischen Immunzellen, sondern im ganzen Körper. Ihre Entdeckung hat unser Bild von der Immunabwehr erheblich erweitert und zu einem Quantensprung im Verständnis chronisch entzündlicher Erkrankungen geführt.

 

Für die Erkennung von Bakterien und Viren besitzt unser Körper ein hoch­spezialisiertes „Sinnesorgan“, das wir als solches gar nicht wahrnehmen. Trotzdem können wir uns auf seine Wachsamkeit und sein stetes Funktionieren im Verborgenen verlassen. Die Rede ist vom sogenannten „Immunosensing“, einem Frühwarnsystem, das Alarm schlägt und Abwehrkräfte mobilisiert, wenn sich der Organismus angegriffen fühlt. Die Erforschung der bio­chemischen und patho­physiologischen Grundlagen fasziniert seit etwa 15 Jahren Wissenschaftler in aller Welt. Ihre Erkenntnisse haben unser Verständnis des Immunsystems maßgeblich erweitert und verändert.
Bis etwa 1965 befasste man sich vor allem mit dem humoralen Immunsystem, das auf speziell trainierten Lymphozyten basiert (Bild links): T-Zellen sind in der Lage, von Erregern befallene Körperzellen zu erkennen und im Notfall zu beseitigen; B-Zellen sind für die Produktion von Anti­körpern verantwortlich. Dieses System wird als adaptiv (angepasst) bezeichnet, denn es löst vor allem dann eine Immun­antwort aus, wenn es schon einmal mit dem Erreger in Kontakt gekommen ist. Prinzipiell ist es auch in der Lage, binnen weniger Tage durch genetische Rekombination spezifische Rezeptoren zu bilden, die neue Erreger erkennen.
Nichtsdestotrotz bleiben bei der bisherigen Sichtweise grundlegende Fragen offen: Wie erkennt unser Körper Viren, Bakterien und Parasiten schon beim Erstkontakt als fremd? Wie entscheidet er, welche Mikroorganismen harmlos und welche bedrohlich sind?

Das angeborene Immunsystem
Diese konzeptionelle Lücke im Verständnis wird durch das angeborene (innate) Immunsystem geschlossen. Es umfasst sowohl mechanisch-chemische Barrieren (Haut- und Schleimhautzellen), als auch zirkulierende und ortsständige weiße Blutzellen (Granulozyten, Makrophagen, natürliche Killerzellen, dendritische Zellen) sowie Proteine und Peptide (Komplement, Interleukine).
Zwei wichtige Aktivitäten, die in den letzten Jahren in den Blickpunkt der Forschung rückten, werden in den Textkästen auf dieser und der nächsten Seite beschrieben, nämlich das Inflammasom und die Immunerkennung von Nukleinsäuren.
Herzstück des innaten Immunsystems sind Rezeptoren, die nicht nur Fremd­moleküle aus Bakterien und Viren, sondern auch Substanzen erkennen, die aus geschädigten körpereigenen Zellen freigesetzt werden. Es kann also auch dann eine Entzündung in Gang setzen, wenn an irgend­einer Stelle im Organismus biochemische Alarmsignale ohne Einwirkung externer Pathogene ausgesendet werden (sog. sterile Entzündung).

Intrazelluläre Rezeptoren

In der Fachsprache nennt man die daran beteiligten Moleküle DAMPs (danger-associated molecular patterns). Im Gegensatz zu pathogen-assoziierten PAMPs sind sie vor allem deshalb medizinisch bedeutsam, weil sie an der Entstehung chronisch-entzündlicher Erkrankungen mitwirken. Dazu gehören vor allem auch viele Volks-, Zivilisations- und Alterskrankheiten unserer Zeit (siehe Kasten unten).
In den letzten Jahren wurden wesentliche Mechanismen dieses immunsensorischen Systems entschlüsselt. Dabei stieß man auf zahlreiche intrazelluläre Rezeptoren, die – anders als die klassischen Immun­rezeptoren – nicht nur spezifische Strukturen molekularer Liganden erkennen, sondern auch deren Ausprägung messen. Je größer die Gefahr bzw. Schädigung an der Stelle des Reizes, desto mehr Rezeptormoleküle werden aktiviert und desto ausgeprägter ist die entzündliche Reaktion.Diskutiert wird derzeit auch die Idee einer Master Signaling Platform innerhalb der Zellen, auf der sich verschiedene Signale aufsummieren und so über die Gesamt­stärke der Immunantwort entscheiden.
Diese ausgeklügelte Quantifizierung von Signalen ist eine Grundeigenschaft sensorischer Systeme, wie sie uns von der Licht- oder Tonwahrnehmung bestens vertraut ist. Deshalb erscheint es in der Tat berechtigt, von einem „immunologischen Sinn“ zu sprechen.


Immer und überall aktiv
Die größte Besonderheit des immun­sensorischen Systems liegt darin, dass es nicht in einem exakt umschriebenen Sinnes­organ wie dem Auge oder Ohr lokalisiert ist, sondern sich über den gesamten Körper erstreckt. Letztendlich besitzt jede Zelle unseres Körpers Immunrezeptoren, die Tag und Nacht aktiv sind, um mögliche Gefahren zu erkennen, ohne dass wir uns dessen bewusst werden. Das mag auf den ersten Blick der Vorstellung von einer Sinneswahrnehmung widersprechen, aber unser Auge empfängt ja ebenfalls jede Sekunde unbewusst eine Fülle visueller Informationen, die zum Großteil peripher ausgewertet werden, ohne dass unsere Großhirnrinde davon Kenntnis erhält.
Die erste Verarbeitung immunsensorischer Aktivitäten geschieht in aller Regel direkt am Ort der Schädigung. Je nach Stärke der Signale bleibt die Reaktion auf den immunologischen Reiz lokal begrenzt oder es wird – falls nötig  – eine systemische Immunantwort eingeleitet. Zu diesem Zweck arbeitet das immunsensorische System eng mit anderen im Körper verteilten Funktionseinheiten, etwa dem Nerven- und Hormonsystem sowie den Stoffwechselsystemen zusammen.

Verdächtig, weil am falschen Ort
Zu den in allen Körperzellen vertretenen Immunrezeptoren zählen Proteine wie RIG-I oder STING, die eingedrungene virale RNA bzw. DNA erkennen. Lange Zeit befasste sich die immunologische Forschung fast ausschließlich mit der Erkennung von Proteinen durch Blutzellen und Antikörper, doch heute wissen wir, dass das entwicklungsgeschichtlich älteste Abwehrsystem in der Biologie der Zerstörung fremder Nukleinsäuren dient.
Erst in den letzten zehn Jahren wurden die biochemischen Mechanismen aufgedeckt, die einer Zelle helfen, die Integrität der eigenen Nukleinsäuren sicherzustellen und unerwünschte Nukleinsäuren zu eliminieren. Einer davon – die Wirkung der RNA-Helikasen – ist im obigen Kasten näher beschrieben.
Auch nach den Mechanismen der Erkennung fremder DNA im Zytoplasma wurde viele Jahre vergeblich gefahndet. Normalerweise kommt DNA beim Menschen ja nur im Zellkern vor, doch bei Infektion mit DNA-Viren oder auch bei bestimmten Autoimmunerkrankungen wie etwa dem Lupus erythematodes findet sich DNA auch im Zytoplasma. 2013 konnte der Erkennungsmechanismus endlich aufgeklärt werden: Ein Enzym namens cGas produziert beim Kontakt mit freier DNA den Botenstoff cGAMP (Zyklo-GMP-AMP). Dieser dockt an das STING-Protein an, das eine interferonabhängige Entzündungskaskade in Gang setzt. Diese Erkenntnis hat bereits zu neuen therapeutischen Ansätzen durch gezielte Aktivierung von STING bei Virusinfektionen bzw. Blockade von STING bei Autoimmunerkrankungen geführt.

 




Autoren:


 

Dr. rer. nat. Cornelia Hömig-Hölzel

Prof. Dr. med. Gunther Hartmann
Univ. Bonn, Institut für Klinische Chemie und Klinische Pharmakologie – Zentrallabor
www.immunosensation.de