„In der Breite sollten wir teure molekulare Tests nur durchführen, wenn es gesicherte therapeutische Konsequenzen gibt.“
Im Rahmen des Onkologischen Symposiums der Trillium Akademie, das im November 2020 stattfand, fielen die Sätze: „Jeder Tumor ist so individuell wie der Patient, in dem der Tumor wächst. Wenn man die genetische Ausstattung des Tumors nachweisen kann, kann die Therapie des Patienten entsprechend individualisiert werden.“ Was hoffnungsvoll klingt, ist aber derzeit noch weit von der klinischen Realität entfernt. Über die Grenzen von zielgerichteten Therapien und sinnvolle Teststrategien sprach Trillium Krebsmedizin mit Prof. Marcus Hentrich, Ärztlicher Direktor des Rotkreuzklinikums München.
Mit einer zielgerichteten Therapie werden derzeit keine Patienten geheilt – woran liegt das?

Hentrich: Wenn Sie so wollen, liegt das in der Natur der Sache. Das bedeutet, die Ätiologie bzw. Pathogenese einer Krebserkrankung ist so komplex, dass sie durch das therapeutische Angehen einer einzigen Veränderung oder Mutation nicht ausreichend erreicht werden kann. Es liegt also an der Komplexität der Krebsentstehung, die nicht nur durch eine einzige Mutation bestimmt wird und mit einer einzigen zielgerichteten Therapie nicht effektiv und nachhaltig behandelt werden kann. Es gibt eine wichtige Ausnahme, die chronische myeloische Leukämie (CML), die durch eine einzige genetische Veränderung, das Philadelphia-Chromosom bzw. das BCR-ABL-Fusionsgen, ausgelöst wird. Der Tyrosinkinase-Inhibitor Imatinib führt bei CML-Patienten zu einem tiefen molekularen Ansprechen mit sehr hohen Langzeitremissionsraten. Ein durch eine einzige gezielte molekulare Therapie erreichtes 8-Jahres-Überleben von ca. 90 % gibt es bei keiner anderen malignen Erkrankung und wird es mutmaßlich auch kein weiteres Mal geben.
Der durch zielgerichtete Therapien hervorgerufene Selektionsdruck mag eine zusätzliche Rolle spielen – im Großen und Ganzen fällt das aber nicht sonderlich ins Gewicht.
Wäre die Kombination verschiedener zielgerichteter Therapien eine Option?
Hentrich: Zum Teil wird das schon erfolgreich durchgeführt, z. B. beim malignen Melanom durch eine Kombination von BRAF- und MET-Inhibitoren. Bei vielen anderen Malignomen können relevante molekulare Veränderungen entweder nicht identifiziert oder durch Kombinationstherapien nicht wirksam genug angegangen werden. Hinzu kommt, dass Kombinationstherapien oft mit einer höheren Rate an Nebenwirkungen verbunden sind.
Könnte möglicherweise mehr erreicht werden, wenn die zielgerichtete Behandlung früher im Krankheitsverlauf beginnt – was voraussetzt, dass früher molekular getestet wird?
Hentrich: Bei einigen Krebserkrankungen macht man das schon in frühen Stadien, beim Bronchialkarzinom beispielsweise. Tyrosinkinase-Inhibitoren wie Osimertinib, Afatinib und andere werden bereits beim fortgeschrittenen nicht-kleinzelligen Bronchialkarzinom (NSCLC) bei Vorliegen einer EGFR-Mutation als Erstlinientherapie eingesetzt. Nun wurde in einer weiteren randomisierten Studie Osimertinib als adjuvante Therapie bei NSCLC-Patienten in den Stadien IB bis IIIA mit EGFR-Mutation untersucht; das krankheitsfreie Überleben gegenüber Placebo wurde signifikant verlängert. Auch beim Mammakarzinom wird bei Her2/neu-Überexpression bereits primär eine gegen HER2/neu gerichtete Therapie eingesetzt. Ähnliches gilt für das kolorektale Karzinom, das maligne Melanom und andere Krebserkrankungen.
Kann man aus molekularen Analysen auch Erkenntnisse ziehen, wenn für die entsprechenden Mutationen noch keine Therapie verfügbar ist?
Hentrich: Wenn Mutationen aktuell noch keine direkte therapeutische Konsequenz haben, können sie doch eine prognostische und zum Teil auch prädiktive Bedeutung haben. So ist z. B. die IDH-Mutation bei Glioblastomen mit einer günstigen Prognose verbunden. Momentan hat sie aber noch keine direkte therapeutische Konsequenz.
Sollte Ihrer Meinung nach auch unter laufender Therapie molekular getestet werden? Wenn ja, mit welchen diagnostischen Tools?
Hentrich: Ja, das sollte gemacht werden, wenn die Effektivität der laufenden Therapie sehr begrenzt ist und der Patient hierauf nicht mehr anspricht. Es erfolgen dann gezielte molekulare Testungen, z. B. auf MSI oder den RAS- oder den BRAF-Status. Eine breite Genpaneltestung mit all ihren Vor- und Nachteilen kann natürlich auch zum Einsatz kommen, aber im Vordergrund der Testung sollten molekulare Veränderungen stehen, für die es auch eine wirksame Therapie gibt.
Sie betonen, wie wichtig die Dokumentation der Testung und der darauf basierenden Therapie sei. Wird das denn noch gar nicht gemacht?
Hentrich: Das erfolgt derzeit vorwiegend auf einer individuellen Basis. Wenn ich ein 400-Gen-Panel vorliegen habe und daraus eine therapeutische Konsequenz ziehe, wird das natürlich entsprechend dokumentiert. Die Ergebnisse dieser Einzelfallentscheidungen werden bisher aber nicht systematisch genug erfasst. Es gibt z. B. das sog. Infinity-Register – eine klinische Forschungsplattform zur Entscheidungsfindung und zum klinischen Einfluss der Biomarker-gesteuerten Präzi-
sionsonkologie, von dem erste Ergebnisse auf dem diesjährigen DGHO-Kongress vorgestellt wurden. In dieser ersten Auswertung wurden Daten nicht nur von breiten Multigen-Analysen präsentiert, sondern u. a. auch von in der klinischen Routine etablierten Bestimmungen, wie z. B. dem HER2neu-Status.
Es wäre aber überaus wichtig zu erfahren, welche Konsequenzen aus der Analyse von 300–400 Genen gezogen und welche klinischen Ergebnisse damit erreicht wurden. In einer großen Arbeit mit 10.000 Patienten vom Memorial Sloan Kettering Cancer Center wurde dargestellt, welche Mutationen detektiert werden können; aber welche therapeutischen Konsequenzen daraus gezogen wurden und was vor allem aus den Patienten geworden ist, wissen wir nicht. Hierzu gibt es bisher noch so gut wie keine Daten, der Bedarf ist deshalb sehr groß.
Man fragt sich angesichts der Neuerungen bzw. theoretischen Möglichkeiten: Wer soll das alles bezahlen?
Hentrich: Ja, das sehe ich auch so. Momentan erfolgen breite Multigen-Analysen mit NGS auf Einzelfallbasis und die Kassen sind meiner Erfahrung nach meistens relativ wohlwollend. Ich habe es aber auch schon erlebt, dass Patienten Multigen-Tests auf NGS-Basis selber gezahlt haben. Wenn Patienten Zugang z. B. zu einem an einer Uniklinik angesiedelten molekularen Tumorboard-Netzwerk haben, ist das für sie mit keinen Kosten verbunden. Das gilt jedoch nur für eine Minderheit der Patienten. In der Routineversorgung werden Patienten größtenteils in onkologischen Schwerpunktpraxen oder an nicht-universitären Häusern betreut. In der Breite sollte man teure und breite Multigen-Analysen meines Erachtens nur durchführen lassen, wenn die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass sich aus den Ergebnissen therapeutische Konsequenzen ergeben.
Wie sehen Sie die zukünftige Rolle des Arztes in einer immer stärker von Daten getriebenen Medizin?
Hentrich: Ich habe hier eine relativ klare Haltung. Natürlich werden künstliche Intelligenz und die darauf basierenden Programme uns neue Erkenntnisse bringen. Datenbasierte Algorithmen werden uns helfen, aber ich bin ganz sicher: Der Arzt/die Ärztin bleibt der zentrale Ansprechpartner für den Patienten, das ist auch meine tägliche Erfahrung. Der Arzt wird die Rolle als Vertrauensperson nicht verlieren. Er bleibt eine ganz wichtige Instanz, um bestimmte Informationen noch einmal zu filtern, zu bewerten und auf die individuelle Situation des Patienten anzupassen. Die ärztliche Erfahrung kann von einem Computer nicht übernommen werden. Das Grundbedürfnis nach individueller Betreuung durch den Arzt und der Wunsch, dass man sich um ihn kümmert, wird sich nicht ändern.
Außerdem wird die Verantwortung für die Therapie natürlich immer beim Arzt bleiben, trotz künstlicher Intelligenz und datenbasierter Algorithmen.
Herr Prof. Hentrich, vielen Dank für das interessante Gespräch.
Das Interview führte Mascha Pömmerl.