Interview mit Prof. Dr. Wolfgang Wick, Heidelberg

„Die Behandlung von primären Hirntumoren erfordert intelligente und komplexe Therapiekonzepte“

Die Neuroonkologie hat sich in der vergangenen Dekade wissenschaftlich enorm weiterentwickelt. Die molekulare Klassifizierung primärer Hirntumoren schreitet voran; es können heute bereits Läsionen für einen gezielten Therapieansatz definiert werden. Auch wenn momentan erst ein geringer Teil der Patienten von diesen innovativen Therapiestrategien profitiert, spricht vieles dafür, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern wird. Größte Herausforderung bleibt die primäre Heterogenität der Tumoren. Trillium Krebsmedizin sprach mit dem Neuroonkologen Prof. Wolfgang Wick, Heidelberg, über neuartige Strategien zur Diagnostik und Behandlung von Hirntumoren, intelligente Netzwerke im Gehirn und bislang unbekannte Immun-Angriffspunkte.

Herr Prof. Wick, wenn Sie zurückblicken: Wie beurteilen Sie die Entwicklung in Ihrem Fachgebiet Neuroonkologie im vergangenen Jahrzehnt?

Wick: Die Behandlung von Hirntumoren hat in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte gemacht. Operationen sind viel sicherer geworden; die Chemotherapie mit Temozolomid und vor allem die kombinierte Radio-Chemotherapie haben weitere Fortschritte gebracht. Zudem sind bundesweit spezialisierte Zentren an Universitätskliniken entstanden, die eine interdisziplinäre und intensivere Behandlung der Patienten erlauben.
Darüber hinaus haben wir eine enorme wissenschaftliche Entwicklung durchlaufen. Wir verstehen Hirntumoren heute besser als jemals zuvor. So können wir diese Tumoren heute molekular in deutlich stärker abgegrenzte Subgruppen einteilen und dadurch prognostische Aussagen für betroffene Patienten treffen. Die molekulare Klassifikation hilft uns aber auch dabei, bessere, weil gezieltere klinische Studien durchführen zu können, weil wir nun für definierte Entitäten klare und saubere Effekte bestimmter Behandlung dokumentieren können. Wir haben auch Gruppen von therapierelevanten Veränderungen gefunden, die charakteristisch für einzelne Hirntumoren sind. So gelingt es uns zunehmend, Läsionen für gezielte Therapieansätze zu definieren. Als prominentes Beispiel möchte ich die IDH-Mutation nennen – eine genetische Alteration, die uns wirklich großartige therapeutische Perspektiven eröffnet. Im Moment kann allerdings erst ein Bruchteil der Patienten von diesen innovativen Ansätzen profitieren. Ich bin aber sicher, dass sich das in absehbarer Zeit ändern wird, wenngleich es noch viele Probleme zu lösen gilt.

Ihre Arbeitsgruppe konnte zeigen, dass bei primären Hirntumoren vieles anders ist als bei anderen soliden Tumoren, dass beispielsweise gliale Tumoren im Gehirn Netzwerke bilden.

Wick: Ja, das ist wirklich hoch spannend und stellt aus Sicht der Grundlagenwissenschaft ein völlig neues Konzept für das Tumorwachstum dar. Seit einigen Jahren verfolgen meine Mitarbeiter und ich, dass Hirntumoren die Basis-Charakteristika des Gehirns, also die dort herrschende Netzwerkstruktur, imitieren. Das ist für den Hirntumor gleich doppelt vorteilhaft: Zum einen kann er therapeutische Angriffe mit Strahlen oder Medikamenten viel besser abschmettern, weil das Netzwerk sich eine Struktur schafft, mit der es die Toxizität antitumoraler Wirkstoffe besser verteilt. So können beispielsweise Calciumsignale, die bei einzelnen Tumorzellen den Zelltod auslösen würden, im Netzwerk verteilt und damit praktisch unwirksam gemacht werden. Damit laufen die üblichen Therapiestrategien, die wir bei anderen soliden Tumoren erfolgreich anwenden, im Gehirn völlig ins Leere. Der Tumor wird therapieresistent.

Doch das ist noch nicht alles: Das Tumor-Netzwerk macht sich außerdem die Kommunikationsstrukturen zu gesundem Gehirngewebe zunutze, also zu Nerven- und Gliazellen. Durch diesen „Missbrauch“ gehirneigener Strukturen ist der Tumor in die Lage, nach einem erlittenen Schaden Reparaturvorgänge durchzuführen. Seit wir dies alles wissen, haben wir ein völlig neues Verständnis für die Behandlung von Hirntumoren entwickelt: Es geht therapeutisch wohl weniger darum, die einzelne Tumorzelle ins Visier zu nehmen, sondern vielmehr die gesamte Architektur der Tumorzellen inmitten des gesunden Hirngewebes.  

Ergeben sich aus diesen Erkenntnissen neue therapeutische Strategien?

Wick: Tatsächlich eröffnen sich mit den Netzwerken bei den Gliomen völlig neue Zielstrukturen im Gehirn, die bislang in der Onkologie überhaupt keine Rolle gespielt haben. Unsere Targets sind in diesem Fall keine Rezeptor-Tyrosinkinasen auf der Zelloberfläche, wie wir sie von anderen soliden Tumoren kennen, sondern Kanalstrukturen zwischen Zellen, also Gap-Junction-Proteine. Wir müssen lernen, das Netzwerk therapeutisch durch Veränderungen an den Elektrolytkanälen, beispielsweise an den Calciumkanälen, zu beeinflussen. Nur so werden wir die Si-gnalübertragung zwischen den Zellen verändern und damit effektiv gegen das Tumor-Netzwerk vorgehen können.

Wie schätzen Sie den Erfolg von Immunstrategien im Gehirn ein?

Wick: Übergeordnete Immunangriffe gegen primäre Hirntumoren sind tatsächlich eine Strategie, die wir diskutieren. Allerdings scheint es leider so zu sein, dass die bekannten Immun-Checkpoints wie CTLA-4 oder PD-1/PD-L1 im Gehirn keine bedeutende Rolle spielen. Es scheint eigene hirntypische Checkpoints zu geben, die wir allerdings noch nicht kennen und deshalb auch nicht gezielt angehen können. Mein großer Wunsch ist, dass wir innerhalb der nächsten zehn Jahre einen hirnspezifischen Immun-Checkpoint identifiziert und als Zielstruktur weiterentwickelt haben werden.

Welche Rolle spielt die antiangiogene Therapie bei Glioblastomen, in die man ja große Hoffnungen gesetzt hatte?

Wick: Ich glaube, dass die antiangiogene Therapie für den Großteil unserer Patienten keine Rolle mehr spielen wird, auch wenn der VEGF-Antikörper Bevacizumab 2018 in den USA für die Zweitlinienbehandlung des Glioblastoms zugelassen wurde. Es gibt zwar eine kleine Gruppe von Patienten, die gut und auch langfristig anspricht, doch das rechtfertigt nicht den breiten Einsatz des Antikörpers. Unser Ziel sollte es vielmehr sein, Patienten zu identifizieren, die einen Nutzen von der Behandlung haben. Es gibt darüber hinaus einige Patienten, die zumindest kurzfristig vom palliativen Aspekt der antiangiogenen Therapie profitieren – zum Beispiel Patienten, die schon früh im Erkrankungsverlauf unter starken entzündlichen Nebenwirkungen einer Strahlentherapie leiden.

Einen allgemeinen Einsatz für die antiangiogene Therapie sehe ich nach den Studien, die wir durchgeführt haben, aber nicht mehr.

Haben übliche zielgerichtete Anti-Tumor-Strategien, wie wir sie von anderen Entitäten kennen, im Hirn denn gar keine Chance?

Wick: Doch, sicher. Für einzelne Patienten mit primären Hirntumoren gibt es Targets, die wir auch von anderen Tumoren kennen. So finden wir zum Beispiel in seltenen Fällen BRAF-Mutationen. Wenn diese Alterationen auftreten, behandeln wir genauso wie beim malignen Melanom, also mit einer Kombinationsbehandlung aus BRAF- und MEK-Inhibitor. Von diesen klassischen zielgerichteten Therapien profitiert allerdings nur ein geringer Prozentsatz der Patienten.
Das große Problem, mit dem wir zu kämpfen haben, ist die ausgeprägte primäre Heterogenität von Hirntumoren, die wir momentan noch nicht im Griff haben. Hier sehe ich die größte Herausforderung für die Zukunft. Wir wissen nämlich, dass wir die Heterogenität bei Hirntumoren nicht einfach dadurch aushebeln können, dass wir multiple Pfade hemmen. Es geht vielmehr darum, gemeinsame Strukturen therapeutisch anzugehen, die über die rein zielgerichtete Therapie hinausgehen. Ob dies die Netzwerke oder die Immun-Angriffspunkte sein werden, kann momentan noch niemand sagen. Fest steht aber: Die Behandlung von primären Hirntumoren erfordert intelligente und komplexe Therapiekonzepte.

Sind übergeordnete Immunangriffe auf Hirntumoren auch jenseits der Checkpoint-Inhibitoren denkbar?

Wick: Neben zukünftigen Checkpoint-Inhibitoren könnten auch Tumor-Vakzine eine große Bedeutung erlangen. Leider gibt es auch hier ein Problem: So weisen einige Patienten zwar klar definierte sogenannte „private“ Tumormutationen auf, etwa IDH oder H3.3K27, die mit spezifisch im Tumor vorkommenden Antigenen assoziiert sind, tumorzelltypisch präsentiert werden und eine schwache Immunantwort auslösen. Diese Immun-antwort ist allerdings zu schwach. Wir müssen sie deshalb mit einer Impftherapie verstärken. Ob dabei Peptide, RNA oder CAR-T-Zellen zum Einsatz kommen werden, kann derzeit noch niemand sagen, wenngleich einiges für letztere spricht. Und da, wo noch keine privaten Antigene bekannt sind, müssen wir sie suchen.

In einem großen EU-Konsortium sind wir auf der Suche nach solchen Antigenen und waren hier auch durchaus erfolgreich. Das bleibt sehr spannend. Die Ergebnisse der GAPVACX-Studie sind 2019 in Nature publiziert worden. Aktuell suchen wir Förderung für eine Weiterentwicklung des Konzepts, das dann auch im Vergleich zum Standard getestet werden würde.

Gibt es schon Biomarker, die bei der Prognoseabschätzung und Therapieentscheidung helfen können?

Wick: Ja, diese Marker gibt es und einige haben bereits Eingang in die aktuelle WHO-Klassifikation gefunden. Als pro-gnostische Marker sind derzeit die IHD-Mutation und der 1p/19q-Status etabliert; für die nähere Zukunft werden aller Voraussicht nach Methylierungsklassen hinzukommen. Als zukünftiger prädiktiver Biomarker wird die MGMT-Promotor-Hypermethylierung diskutiert, die eine Aussage über das Ansprechen auf eine alkylierende Chemotherapie ermöglicht.

Gibt es klinische Studien, in denen die neuen Erkenntnisse evaluiert werden?  

Wick: Die Studienaktivität in der Neuroonkologie ist in Deutschland über die Neuroonkologische Arbeitsgemeinschaft (NOA) der Deutschen Krebsgesellschaft hoch. Momentan laufen beispielsweise zwei Studien, bei denen ein IDH-Inhibitor und eine Tumorvakzine erstmals bei Menschen eingesetzt wurden. Erfolgreich publiziert wurde die CETEG-Studie, die Patienten mit MGMT-hypermethylierenden Glioblastomen eine Intensivierungs-Möglichkeit der Chemotherapie durch die Kombination von Temozolomid und CCNU (Chlorethyl-Cyclohexyl-Nitroso-Urea) eröffnet. Wir haben außerdem eine große europäische Studie zur personalisierten Immuntherapie mit Vakzinen koordiniert und durchgeführt. Weiterhin läuft derzeit eine Studie mit der Kombination aus einer oralen, gegen den VEGFR2 gerichteten Vakzine und dem gegen PD-L1 gerichteten Immuncheckpoint-Inhibitor Avelumab. Neue Erkenntnisse erhoffen wir uns auch von der achtarmigen Phase-I/II-NOA-Studie N²M², die die Tumorzellen von Patienten mit Glioblastom molekulargenetisch charakterisieren und geeignete personalisierte Therapien – molekular zielgerichtete und immunmodulierende – im Rahmen von klinischen Studien entwickeln wird. So soll die schnelle Priorisierung neuer Wirksubstanzen für die klinische Anwendung vorangetrieben werden. Aktuell sind die ersten Zwischenauswertungen durchgeführt und die Hypothese realisiert, dass mit der Studie kurzfristige, ressourcenschonende Priorisierungen vorgenommen werden können.
Auch im klinischen Alltag, wo es meist um die Rezidivsituation geht, kümmern sich immer mehr Zentren darum, die Tumoren ihrer Patienten molekular einzugruppieren und nach molekular definierten Läsionen zu suchen. So können die Patienten möglicherweise eine zweite Chance mit einer molekular-basierten Therapie erhalten. Diese Entwicklung finde ich wirklich erfreulich.

Wo sehen Sie in den nächsten zehn Jahren die größten Potentiale im Hinblick auf eine bessere Diagnostik und Therapie von Hirntumoren?

Wick: In diagnostischer Hinsicht werden Methylierungsklassen Eingang in den klinischen Alltag finden. Im Hinblick auf die Therapie hoffe ich, dass in den nächsten zehn Jahren mehr Patientengruppen eine bessere Prognose durch adäquate Therapien haben werden.

Wir reden dann nicht mehr von einem Überleben über ein oder zwei Jahre; selbst ein Langzeitüberleben über zehn Jahre oder mehr ist aus meiner Sicht keine Illusion mehr. Ich sehe auch deutliche Fortschritte bei der Tumorvakzinierung – vielleicht mit modifizierten T-Zellen. Und dann hoffe ich sehr, dass wir in puncto Immun-Checkpoint-Inhibition im Gehirn einen entscheidenden Schritt weitergekommen sein werden. Wir wissen heute so viel über Hirntumoren. Ich hoffe, dass in den nächsten zehn Jahren die Phase der klinischen Umsetzung folgt.

Herr Prof. Wick, vielen Dank für das  interessante Gespräch.

Das Interview führte Dr. Claudia Schöllmann.