Interview mit Prof. Dr. Thomas Seufferlein, Ulm
„Wir werden erleben, dass Krebserkrankungen im GI-Bereich, die heute bei Diagnose ein Todesurteil bedeuten, chronifiziert werden können“
Erkenntnisse aus der molekularen Diagnostik, aber auch aus dem Metabolom und Immunom werden die Behandlung von gastrointestinalen Tumoren (GI-Tumoren) immer passgenauer machen. Bereits heute ist die Behandlung ständig im Fluss, und selbst für Patienten mit ungünstiger Prognose, etwa bei Tumoren mit BRAF-Mutation, stehen inzwischen interessante Behandlungsoptionen zur Verfügung. Was heute schon geht und was zukünftig zu erwarten ist, darüber sprach Trillium Krebsmedizin mit Prof. Dr. Thomas Seufferlein von der Universitätsklinik Ulm.
Schlüsselwörter: BRAF-Mutation, gastrointestinale Tumoren, CRC, Molekulardiagnostik, Metabolom, Immunom
Herr Prof. Seufferlein, welches sind die derzeit bedeutendsten prognostischen und prädiktiven Marker beim kolorektalen Karzinom (CRC)?

Seufferlein: Prognostische Marker beim metastasierten CRC (mCRC) gibt es viele, aber von besonderer Relevanz sind die Marker, die prognostisch und prädiktiv bedeutsam sind. Ein solch wichtiger Marker ist BRAF. Einen weiteren relevanten Marker stellt RAS dar: Die RAS-Mutation hat einen negativen prognostischen Wert, während umgekehrt der RAS-Wildtyp einen positiv prognostischen Marker darstellt – vorausgesetzt, die Tumoren sind im linksseitigen Kolon lokalisiert. Ein prädiktiver Marker für die Wirksamkeit einer Checkpoint-Inhibitor-Therapie ist die Mikrosatelliteninstabilität (MSI – aktuell auch bestätigt durch die Daten beim ASCO 2020. Daneben kennen wir natürlich noch die HER2-Überexpression als prädiktiven Marker für eine Therapie mit Anti-HER2-Antikörpern wie Trastuzumab und Lapatinib. Beim kolorektalen Karzinom finden wir auch NTRK-Fusionen als prädiktive Marker für die Therapie mit Larotrectinib und demnächst Entrectinib, die allerdings sehr selten sind.
Welchen Stellenwert hat der BRAF-Status und welche therapeutischen Konsequenzen ergeben sich?
Seufferlein: BRAF-V600E-Mutationen sind bei ca. 8–10 % der Patienten mit mCRC zu finden. Prognostisch ist das die ungünstigste Mutation beim mCRC und leider ist sie auch prädiktiv für eine schlechte Wirksamkeit von Chemotherapien. Wir erreichen somit bei diesen Patienten mit konventioneller Chemotherapie deutlich weniger als bei anderen Patienten. Die BRAF-V600E-Mutation ist also negativ prognostisch und gleichermaßen negativ prädiktiv. Umso wichtiger ist es, neue Therapiekonzepte für diese Gruppe zu entwickeln, auch Chemotherapie-unabhängig. Hier ist die Kombination aus Encorafenib und Cetuximab eine interessante Kombination, weil sie gezielt zwei Signalwege adressiert, deutlich besser wirkt als Zytostatika und auch ein handhabbares Nebenwirkungsprofil hat.
Gehen Sie davon aus, dass Patienten mit BRAF-mutiertem mCRC nur dann auf eine Anti-EGFR-Therapie ansprechen, wenn diese mit einem BRAF-Inhibitor kombiniert wird?
Seufferlein: Das ist schwierig zu beurteilen, weil die Datenlage hierzu so schlecht ist. Es liegen uns lediglich nicht geplante Subgruppenanalysen aus Studien vor, die teilweise anekdotisch sind. Es ist ja grundsätzlich so: Je mehr Patienten wir anschauen, umso mehr lernen wir. Das haben wir nun auch im Hinblick auf die Wirksamkeit bei der Chemotherapie für BRAF-mutierte mCRC-Patienten gesehen: Wir hatten zunächst die Daten aus der TRIBE-Studie mit rund 15 Patienten pro Gruppe, die nahelegten, dass eine Dreifach-Chemotherapie bei diesen Patienten effektiver ist als eine Zweifach-Chemotherapie.
Jetzt liegen uns die Daten einer Analyse von gesammelten Daten aus fünf Studien vor, die auf dem ASCO 2020 vorgestellt wurden und die die ursprüngliche Aussage relativieren. Es gibt demnach keinen Hinweis darauf, dass eine Dreifach-Chemotherapie bei BRAF-mutierten Tumoren wirklich besser ist als eine Zweifach-Chemotherapie.
Ähnlich ist das auch bei der EGF-Rezeptor-Inhibition. Es kommt darauf an, welche Studien man analysiert, aber letztlich ist die Patientenzahl bisher viel zu klein, um daraus wirklich konklusive Schlüsse zu ziehen. Was wir aber sagen können: Für Patienten mit BRAF-V600E-mutierten Tumoren reicht mit hoher Wahrscheinlichkeit eine EGF-Rezeptor-Inhibition alleine nicht aus. Man braucht die Kombination von EGFR- und BRAF-Inhibition, um Wirksamkeit zu erreichen.
Und was Kombinations-Chemotherapien mit Anti-EGFR-Antikörpern betrifft: Da haben wir gerade mit der VOLFI-Studie eine interessante Studie der AIO publiziert. Sie zeigt, dass wir auch bei BRAF-mutierten Tumoren durch die Hinzunahme eines Anti-EGFR-Antikörpers zu einer Dreifach-Chemotherapie – das ist das Maximale, was man derzeit einsetzen kann – ein sehr gutes Tumoransprechen erzielen können, aber wir sehen keine Verlängerung des progressionsfreien Überlebens oder Gesamtüberlebens. Die Toxizität dieser Vierfach-Kombination ist erheblich.
Ist die Testung von BRAF ebenso wichtig wie die von RAS? Gibt es ggf. eine bestimmte Reihenfolge der Testung oder sollte besser eine Paneltestung erfolgen?
Seufferlein: Nach den derzeit zur Verfügung stehenden Daten müssten wir für die Wahl der Erstlinientherapie nur auf RAS und nicht auf BRAF testen, weil wir die Therapie nach anderen Kriterien als nach einer BRAF-Mutation auswählen, z. B. nach Allgemeinzustand, nach Patientenwunsch, Remissionsdruck und vielleicht dem Erreichen einer sekundären Resektabilität. Auf dieser Basis würden wir die Patienten dann intensiver oder weniger intensiv behandeln. Aber es gilt jetzt nicht mehr automatisch: BRAF-Mutation bedeutet maximal intensive Therapie in der Erstlinie. Wir würden dann eher in der Zweit- und Drittlinie testen, vorzugsweise vor Beginn der Zweitlinie, weil wir nun eine Therapie zur Verfügung haben, die wir bei fortgeschrittenen Tumoren, also beim metastasierten CRC mit BRAF-V600E-Mutation, einsetzen können. Allerdings muss man ehrlicherweise sagen: In den meisten Panels ist der Test auf BRAF schon integriert.
Wenn Kolleginnen und Kollegen vor der Erstlinienbehandlung nicht mehr einzeln, sondern per NGS-Panel auf RAS-Mutationen testen, dann ist die Information zu BRAF damit gleich mit verfügbar. Es erscheint mir auch sinnvoll, die Information von Beginn an zu haben, um bei einem Progress frühzeitig auf eine effektive Zweitlinientherapie umstellen zu können.
Erfassen die molekularen Tests auch seltenere BRAF-Mutationen?
Seufferlein: Aktueller Wissensstand ist, das vor allem die V600E-Mutation relevant ist, und diese sollte bestimmt werden. Die anderen BRAF-Mutationen verhalten sich anders und unterscheiden sich auch hinsichtlich der Prognose von der V600E-Mutation. Bei Tumoren mit anderen BRAF-Mutationen gibt es nach aktuellem Kenntnisstand nicht dieses sehr schlechte Ansprechen auf eine Chemotherapie. Es liegen uns zudem keine Daten darüber vor, ob die Kombinationshemmung mit BRAF- und EGFR-Inhibitor bei diesen Tumoren besonders gut wirksam ist. Deshalb halte ich es im Moment nicht für notwendig, andere BRAF-Mutationen als V600E zu bestimmen. Das ist ein Forschungsthema, aber noch kein Umsetzungs- und Anwendungsthema.
Wie ist das derzeit mit der Abrechnung geregelt?
Seufferlein: Die BRAF-Testung ist im Augenblick noch nicht im Erstattungskatalog der GKV enthalten, doch das wird sich nach meiner Einschätzung bald ändern. Wenn es eine Zulassung gibt und ich die Therapie nur dann durchführen kann, wenn ich weiß, ob die Mutation vorliegt, muss die Testung erstattet werden. Wahrscheinlich wird das über die Paneldiagnostik kommen. Wir als Universitätsklinikum haben den Vorteil, dass wir über unsere Hochschulambulanz – mit den Kostenträgern in Baden-Württemberg wohlgemerkt – Testungen/Testkontingente verhandelt haben, in deren Rahmen wir auch Panelsequenzierungen durchführen können und abrechnen dürfen. Aber auch für den niedergelassenen Bereich wird die BRAF-Testung sehr schnell kommen, so wie sich die RAS-Testung auch durchgesetzt hat. Die Labore sind definitiv darauf eingerichtet. Die Standards existieren ja bereits vom Melanom – das ist also sehr schnell und mit einer guten Qualität umsetzbar.
Könnte eine molekulargenetische Testung im Sinne eines Therapiemonitorings, z. B. unter Anti-EFGR-Therapie, sinnvoll sein? Und welche Rolle könnte Liquid Biopsy spielen?
Seufferlein: Da denken Sie schon sehr weit. Bei den RAS-Wildtyp-Tumoren testen wir, um zu sehen, ob die Frequenz der mutierten Ras-Allele ansteigt. In diesem Fall ist eine Therapie mit monoklonalen Anti-EGFR-Antikörpern nicht mehr erfolgversprechend. Das würden wir beim BRAF-mutierten Tumor alktuell nicht tun. Ob wir BRAF-mutierte Klone durch eine medikamentöse Therapie wirklich eradizieren können, ist fraglich. Das ist im Augenblick ein Forschungsthema. Die Frage wäre: Wenn wir BRAF inhibieren, bekommen wir dann eine Alteration im Mutationsspektrum? Gibt es also andere Klone, die dann dominieren? Das ist derzeit eine Fragestellung für die Forschung, die im Augenblick für die klinische Praxis noch keine Relevanz hat, für die wissenschaftliche Auseinandersetzung aber spannend ist. Das Problem dabei ist die niedrige Frequenz dieser Tumoren. Es ist sehr schwer, größere Fallzahlen und damit auch aussagekräftigere Daten zu bekommen. Aber wir werden da definitiv in Zukunft sicher einiges in der Richtung hören, und vieles davon wird über Liquid Biopsies etabliert werden.
Bei welchen anderen GI-Tumoren ist der molekulare Nachweis von Biomarkern bereits relevant?
Seufferlein: Tumoragnostisch haben wir bei den meisten Tumorentitäten bei
Mikrosatelliten-instabilen Tumoren sehr gute Signale, dass Immun-Checkpoint-Inhibitoren hier besonders gut funktionieren. Beim Magenkarzinom, aber auch bei anderen Tumoren wie dem CRC, ist der HER2-Status des Tumors relevant, gerade bei den RAS-Wildtyp-Tumoren, bei denen wir dann entsprechend molekular intervenieren können. Beim Pan-kreaskarzinom hat sich gezeigt, dass in der Untergruppe der BRCA1 und 2-Keimbahn-mutierten Patienten eine Erhaltungstherapie mit PARP-Inhibitoren, in dem Fall Olaparib, eine sinnvolle Therapie sein kann. Diese Behandlung wurde soeben zugelassen. Das bedeutet, dass wir zunehmend mehr Entitäten haben, für die solche molekular gesteuerten Therapien infrage kommen. Gerade im Hinblick auf die Checkpoint-Inhibitoren gibt es noch die Gruppe der Patienten, bei denen bestimmte molekulare Marker, also spezi-elle spezielle Immun-Scores im Tumor, nachweisbar sind, die eine Checkpoint- inhibitor-Therapie ebenfalls aussichtsreich erscheinen lassen. Kurz: Es gibt immer mehr Marker, die eine zielgerichtete Therapie in der richtigen Subgruppe mit dem Ziel einer Personalisierung der Behandlung erlauben. So bekommen wir zugeschnittene Therapien und brauchen nicht mehr die „Gießkanne auszuschütten".
Wie sehen Sie die weitere Entwicklung hinsichtlich der molekularen Diagnostik bei GI-Tumoren?
Seufferlein: Wir werden zukünftig wesentlich mehr molekular testen und die Panels werden größer werden. Wir lernen auch zunehmend, dass es nicht nur mutationsbasierte Unterschiede gibt, sondern dass Tumoren Escape-Mechanismen besitzen, die durch metabolische Prozesse vermittelt werden. Wir haben sogar schon Substanzen zur Verfügung, die bestimmte metabolische Prozesse adressieren.
Auch das Immunsystem spielt eine bedeutende Rolle und kann immer gezielter adressiert werden. Die selektiven Ansätze über CAR-T-Zellen werden ebenfalls weiterentwickelt. Wir werden also ein ganzes Spektrum an neuen Optionen zur Verfügung haben. Wesentlich wird sein, diese Ansätze zu integrieren und zu priorisieren. Es wird Tumoren geben, die sich für zwei, drei oder gar vier Ansätze eignen. Hier stellt sich dann die Frage, in welcher Reihenfolge man sie am sinnvollsten einsetzt.
Wir werden außerdem lernen – und das ist ein wirklicher Lernprozess, bei dem uns wahrscheinlich auch künstliche Intelligenz unterstützen wird –, die Ergebnisse besser zu bewerten, wenn wir Tumoren sequenzieren. Das ist ja ein ständiger Prozess: Wo funktioniert etwas und wo nicht? Und wie können wir den Wissenszugewinn besser integrieren? In Baden-Württemberg gibt es die Initiative für Zentren für personalisierte Medizin, in deren Rahmen wir diese Integration versuchen. Auch aus individuellen Heilversuchen für molekular definierte Therapien versuchen wir Nutzen zu ziehen, indem wir die Outcome-Daten der Patienten gerade auch bei experimentellen Therapien prospektiv sammeln, vergleichen und das Wissen in Algorithmen einfließen lassen. So lernt das System ständig dazu. Hinzu kommen Algorithmen zur Integration von Daten aus Immunom und Metabolom. So lernen wir zunehmend, Konzepte zu priorisieren und Therapien in der besten Sequenz anzuwenden.
Ich glaube, wir werden erleben, dass mehr und mehr Tumorerkrankungen im GI-Bereich, die heute bei der Diagnose ein sicheres Todesurteil bedeuten, chronifiziert werden können. Ein Beispiel dafür sind jetzt schon die Patienten mit mCRC mit MSI-high-Tumoren. Bei vielen Patienten mit diesen Tumoren sehen wir lange progressionsfreie Zeiten und vor allem sehr lange Überlebenszeiten – und das mit einer Therapie, die sich in ihrer Toxizität dramatisch von dem unterscheidet, was wir von der Chemotherapie gewohnt waren. Das ist ein Paradigmenwechsel.
Herr Prof. Seufferlein, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Mascha Pömmerl.