Gentest zum Schutz vor Nebenwirkungen Fluoropyrimidin-basierter Chemotherapien
Ab sofort sollen nach Empfehlung der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) und des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) Tumorpatienten, die eine Fluoropyrimidin-basierte Behandlung erhalten sollen, vorab auf eine genetisch bedingte Unverträglichkeit gegenüber diesen Substanzen getestet werden. Bei positivem Gentest werden – je nach Ausprägung der Unverträglichkeit – Dosisreduktionen notwendig oder es müssen Therapiealternativen gesucht werden. Die DGHO Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie e. V. hat in Kooperation mit mehreren wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften aus Deutschland, Österreich und der Schweiz konkrete Vorschläge zur Umsetzung dieser Empfehlung erarbeitet. Diese wurden Ende Juni im Rahmen einer Online-Pressekonferenz vorgestellt.
Schlüsselwörter: Fluoropyrimidin, Chemotherapie, Gentest, Dihydropyrimidin-Dehydrogenase (DPD)
Viele Jahre lang ging es in der medikamentösen Krebstherapie ausschließlich darum, welche Arzneimittel die Tumorerkrankung des Patienten besonders effektiv hemmen können. Zunehmend wurden und werden dafür auch molekulare Tests durchgeführt – mit dem Ziel, genetische Alterationen aufzuspüren, die für eine zielgerichtete Behandlung mit einem bestimmten Wirkstoff qualifizieren. Nun haben die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) und das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) diesen sinnvollen Ansatz durch eine umgekehrte Strategie erweitert: Ab sofort soll ein routinemäßig durchgeführter Gentest ermitteln, welche Patienten wegen einer genetisch bedingten Unverträglichkeit nicht mit gängigen Fluoropyrimidin-Zytostatika behandelt werden sollen. Speziell geht es dabei um das schon seit den 1960er-Jahren verfügbare und intravenös zu applizierende 5-Fluorouracil (5-FU) selbst, das orale Prodrug Capecitabin (verfügbar seit 2001) und das peroral applizierbare 5-FU-Prodrug Tegafur, das seit 2012 als fixes Kombinationspräparat zusammen mit Gimeracil und Oteracil zur Behandlung des fortgeschrittenen Magenkarzinoms zugelassen ist.
Eines der Top-Onkologika
Fluoropyrimidin-haltige Arzneimittel wie 5-FU gehören zu den am häufigsten eingesetzten Zytostatika in der syste-mischen Tumortherapie, betonte Prof. Anke Reinacher-Schick, Bochum, und Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Internistische Onkologie (AIO) in der Deutschen Krebsgesellschaft bei der Pressekonferenz. 5-FU stehe auf der WHO Model List of Essential Medicines und gehöre hierzulande zu den 10 am häufigsten verordneten Onkologika. Fluoropyrimidine werden bei einer Vielzahl von fortgeschrittenen, aber zum Teil auch bei lokal begrenzten Tumorerkrankungen eingesetzt, etwa beim kolorektalen Karzinom sowie beim Magen-, Pankreas- und Mammakarzinom.
DPD-Mangel verursacht Nebenwirkungen
Die Dihydropyrimidin-Dehydrogenase (DPD) sei das Schlüsselenzym für die Elimination von 5-FU und die Voraussetzung für dessen Ausscheidung im Urin, erklärte die Bochumer Expertin. Ein Defekt des Enzyms führt aufgrund einer Anreicherung im Blut zu erhöhter Toxizität, die sich häufig in oraler Mukositis, Enteritis/Kolitis und/oder Hand-Fuß-Syndrom zeige, bei kompletter DPD-Defizienz jedoch auch zu Multiorganversagen oder Tod führen könne. „Durch DPD-Testung, die obligat vor einer systemischen Fluoropyrimidin-Therapie erfolgen sollte, könne ein knappes Drittel dieser Nebenwirkungen vermieden werden, so Reinacher-Schick. Sie hält die Testung für sehr bedeutsam, da Fluoropyrimidine auch in Zukunft essentielle Wirksubstanzen in der medizinischen Onkologie und die Basis zahlreicher Kombinationstherapien bleiben werden.
Vier relevante Genvarianten
Dem genetisch bedingten DPD-Mangel liegen Varianten im Dihydropyrimidin-Dehydrogenase-Gen (DPYD) zugrunde, die zwar selten sind, bei den Trägern aber mit einem signifikanten Risiko für schwere Nebenwirkungen assoziiert sind, erklärte Prof. Lorenz Trümper, Göttingen, und geschäftsführender Vorsitzender der DGHO. DPD-Mangel sei für etwa 30 % der schweren Toxizitätsreaktionen ab Grad 3, insbesondere Diarrhö, Mukositis, Hand-Fuß-Syndrom, Myelosuppression mit tiefer und langdauernder Neutropenie sowie Neurotoxizität, verantwortlich – mit einer Letalität von 0,2–1 %. Wie Trümper berichtete, tragen bis zu 9 % Patienten europäischer Herkunft eine DPD-Genvariante, die mit einer verminderten Aktivität des Enzyms einhergeht; rund 0,5 % der Patienten weisen einen kompletten Mangel auf. Deshalb, so Trümper, sollten Patienten, die eine Fluoropyrimidin-basierte Therapie erhalten sollen, auf die vier häufigsten genetischen DPYD-Varianten getestet werden.
Diese sind (bezogen auf die DPYD-Transkriptvariante 1):
• DPYD*2A (c.1905+1G>A;
IVS14+1G>A; rs3918290)
• DPYD*13 (c.1679T>G;
rs55886062)
• Polymorphismus c.2846A>T
(rs67376798) und
• HaplotypB3 (c.1236G>A; c.1129
-5923C>G).
In Abhängigkeit davon, welche dieser Genvarianten die Patienten tragen und ob sie heterozygoter oder homozygoter Träger der Variante sind, ergibt sich ein Aktivitätsscore zwischen 0 und 2,0 (Tab. 1).

Dieser ermöglicht die Vorhersage des DPD-Phänotyps auf Basis der beiden schwächsten Allel-Aktivitäten und entscheidet über das weitere risiko-adaptierte Vorgehen.
Vorschläge zur Umsetzung der EMA-Empfehlung
Um Patienten, die die betreffenden DPD-Genvarianten tragen, zu schützen, empfiehlt die EMA seit Ende März 2020, alle Patienten vor einer systemischen Therapie mit den FU-haltigen Arzneimitteln 5-Fluorouracil (5-FU), Capecitabin und Tegafur auf einen DPD-Mangel zu testen. Diese Empfehlung ist bereits Bestandteil der Fachinformationen dieser Arzneimittel. Zusammen mit wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften aus Deutschland, Österreich und der Schweiz hat die DGHO Vorschläge zur Umsetzung dieser Empfehlung erarbeitet.Die Fachgesellschaften empfehlen:
• Patienten sollen vor einer FU-haltigen Therapie auf die vier häufigsten genetischen DPYD-Varianten getestet werden.
• Das Ergebnis der genetischen Analyse ist Basis eines differenzierten, risikoadaptierten Algorithmus mit Empfehlungen zur Therapie mit FU-haltigen Arzneimitteln. Die genetische Analyse kann durch therapeutisches Drug-Monitoring (Bestimmung der Plasmaspiegel unter einer laufenden 5-FU-Dauerinfusion nach Therapie-Applikation) ergänzt werden.
• Die Umsetzung der Therapieempfehlungen muss unter Berücksichtigung der individuellen Erkrankungssituation und der möglicherweise vorhandenen Therapiealternativen erfolgen.
• Die Testung muss qualitätsgesichert durchgeführt werden. Das Ergebnis soll innerhalb einer Woche vorliegen. Das Ergebnis der Testung ist prädiktiv für die Durchführung der geplanten Chemotherapie und damit obligater Bestandteil der personalisierten Therapieplanung.
Diagnostik- und Therapiealgorithmus
Basierend auf den Empfehlungen der Clinical Pharmacogenetics Implementation Consortium (CPIC) Guideline for Dihydropyrimidine Dehydrogenase Genotype and Fluoropyrimidine Dosing: 2017 Update [2], der Dutch Pharmacogenetics Working Group Guideline [3] sowie den Empfehlungen der GPCO-Unicancer- und RNPGx-Netzwerke aus Frankreich [4] wurde ein Diagnostik- und Therapiealgorithmus entwickelt, der eine regelhafte molekulargenetische Diagnostik für die vier häufigsten DPYD-Genvarianten vorsieht. Patienten müssen dazu nach dem Gendiagnostik-Gesetz vom behandelnden Arzt aufgeklärt werden. Der auf Basis der genetischen Analyse erhaltene Aktivitätsscore (Tab. 1) bildet die Basis für den Therapiealgorithmus, wobei die individuelle Erkrankungssituation und Therapiealternativen berücksichtigt werden müssen:
• Bei Patienten mit einem Score von 0 wird die komplette Vermeidung von 5-FU oder der Prodrugs empfohlen.
• Eine sichere Festlegung auf den Aktivitätsscore von 0,5 erfordert eine zusätzliche Phänotypisierung. Bei Bestätigung sollten 5-FU und die Prodrugs entweder vermieden oder die Initialdosis stark reduziert werden – unter Einbeziehung von Drug Monitoring.
• Bei einem Score zwischen 1,0 und 1,5 wird eine Reduktion der Initialdosis auf 50 % empfohlen. Die Anpassung der weiteren Dosierung kann sich an der klinischen und der laborchemischen Toxizität orientieren. Eine zuverlässige und schnellere Alternative ist die pharmakokinetische Messung der Area under the Curve (AUC) von 5-FU nach der Erstgabe von 5-FU-haltiger Therapie, die als Basis der 5-FU-Dosierungen in den folgenden Therapiezyklen dienen kann.
• Bei einem Score von 2,0 kann die Therapie wie geplant durchgeführt werden. Im Falle einer Ersttherapie mit Fluoropyrimidinen wird ein Drug Monitoring empfohlen.
Die aktuellen Vorgaben könnten in die leitliniengerechte Versorgung der Patienten integriert werden, ohne den Behandlungsverlauf zu verzögern, betonte Prof. Bernhard Wörmann, Berlin, Medizinischer Leiter der DGHO.