„Palliativmedizin sollte frühzeitig beginnen, nicht erst, wenn die Situation entgleitet.“
Palliativmedizinisches Handeln bei inkurabel erkrankten Tumorpatient:innen ist Teil des onkologischen Alltags. Allerdings stößt die Regelversorgung in besonders kom-plexen Erkrankungssituationen an ihre Grenzen. In diesen Fällen kommt die spezialisierte Palliativmedizin ins Spiel. Sie bietet multiprofessionelle Unterstützung in allen Bereichen der Versorgung unheilbar Erkrankter: von der akutmedizinischen Behandlung symptombelasteter Patient:innen über palliativpflegerische Aspekte und Versorgungsplanung bis hin zur Hilfe bei ethischen Fragestellungen am Lebensende und psychologischer Unterstützung. Wichtig ist, die palliativmedizinische Versorgung rechtzeitig zu beginnen, nicht erst, wenn die häusliche Situation dekompensiert. Das betont Prof. Bernd Alt-Epping, Heidelberg, im Gespräch mit „Trillium Krebsmedizin".
Herr Prof. Alt-Epping, was verstehen Sie persönlich unter Palliativmedizin?

Prof. Dr. Bernd Alt-Epping ist Ärztlicher Direktor der im Frühjahr 2021 neu eingerichteten Abteilung für Palliativmedizin am Universitätsklinikum Heidelberg. Zuvor war er als leitender Oberarzt am Palliativzentrum des Universitätsklinikums Göttingen tätig.
Alt-Epping: Palliativmedizinisches Denken und Handeln findet überall dort statt, wo es um das Aushaltbarmachen einer unheilbaren Krankheitssituation geht. Palliativmedizin bedeutet, Patient:innen mit inkurablen Erkrankungen nicht nur auf ihre genetisch determinierten Targets oder die nächste Therapiesequenz anzusprechen, sondern gleich mitzudenken, wie die Erkrankungssituation für die Betroffenen, aber auch ihr soziales Umfeld, ertragbar bleibt. Ein solcher Ansatz ist nicht gekoppelt an spezialisierte Strukturen und betrifft auch nicht nur die Zeit nach der Therapie, sondern oftmals auch die Therapiebedingungen selbst. Insofern ist palliativmedizinisches Vorgehen in der Onkologie an der Tagesordnung.
Manche Patient:innen erleiden allerdings Erkrankungsverläufe, die in ihrer Komplexität herausstechen. Wenn beispielsweise Erkrankte mit tumorbedingten Schmerzen zu uns kommen, tut sich mitunter eine Vielzahl weiterer belastender Probleme und Behandlungsbedürftigkeiten auf. Wenn Sie etwa an Patient:innen mit Kopf-Hals-Tumoren denken, gibt es hier oftmals gleichzeitig Probleme mit dem Schlucken, dem Atmen, einer Wundsituation, die blutet oder riecht, mit Schmerzen, aber auch mit der Selbstversorgbarkeit. Wenn ein Mensch dann auch noch alleinstehend und in einer sozial prekären Lage ist, sein Tracheostoma noch allein pflegen muss, und vielleicht sogar noch ein Abhängigkeitsproblem hat, wird es schwierig. Dann strömen so viele Probleme auf diesen Menschen ein, die mehr Unterstützung und therapeutische Reaktionen erfordern, als die regelhaften Versorgungsstrukturen wie Hausärztinnen und Hausärzte, Onkolog:innen, die onkologische Fachkrankenpflege oder der ambulante Pflegedienste leisten können. Im onkologischen Alltag mit seiner engen Therapietaktung wird es selbst bei allerbestem Willen kaum möglich sein, das ganze soziale Gefüge von Patient:innen aufzuarbeiten – etwa wo und wie sie leben, wo sie hingehen, wenn die Behandlung zu Ende ist, und wer sich um sie kümmert, wenn es mal Probleme gibt. Hier kommt dann die spezialisierte Palliativmedizin ins Spiel, die eine Ergänzung zur Regelversorgung darstellt.
Wann im Krankheitsverlauf sollte Palliativmedizin beginnen?
Alt-Epping: Palliativmedizin sollte rechtzeitig beginnen. Das kann tatsächlich auch sehr früh im Verlauf einer inkurablen Erkrankung sein. Um bei den Patient:innen mit Kopf-Hals-Tumoren zu bleiben: Wenn diese unter einer definitiven Radiochemotherapie stehen, können viele Probleme gleichzeitig auftreten und die Betroffenen unvermittelt in Not geraten. Hier gilt es, frühzeitig zu unterstützen, bevor eine schlimme Krise eintritt und die häusliche Situation total entgleitet und dekompensiert.
Spezialisiertes palliativmedizinisches Handeln kann aber auch erst spät im Krankheitsverlauf notwendig werden, wenn etwa eine inkurable Erkrankungssituation stark progredient wird, es zu Obstruktionserscheinungen kommt, Schmerzen oder auch eine Wundsituation schlimmer werden und die soziale Vereinsamung zunimmt. Dann braucht es ein Mehr an Unterstützung, das die spezialisierte Palliativmedizin dank ihrer multiprofessionellen Expertise bieten kann.
Was sind die Therapieziele der spezi-alisierten Palliativmedizin?
Alt-Epping: Es geht in der Palliativversorgung vor allem darum, die Erkrankungssituation für die Patient:innen und ihr soziales Umfeld irgendwie ertragbar zu machen. In der Ethikforschung wird untersucht: Was ist wichtiger, Überlebenszeit oder Lebensqualität? Ich glaube, man kann das nicht auseinanderhalten. Wir sollten uns von dem Schubladendenken verabschieden, dass die Palliativmedizin für die Lebensqualität da ist und die Onkologie für die Lebenszeit. Denn im klinischen Alltag kann die onkologische Therapie natürlich auch die Lebensqualität erhalten oder verbessern. Und aus Sicht der Palliativmedizin ist eine Überlebensverlängerung auch nichts Verbotenes.
Was ist in der Palliativmedizin bedeutsamer: Evidenz oder Intuition?
Alt-Epping: Wenn es um Pharmakotherapie geht, steht klar die Evidenz im Vordergrund. Wir verlassen uns genauso wie jede andere medizinische Fachdisziplin auf unsere S3-Leitlinie
(www.dgpalliativmedizin.de/images/stories/pdf/LL_Palliativmedizin_Langversion_2.2.pdf) und die zugrunde liegenden Studien. Wenn es um Entscheidungen im konzeptionellen Sinne geht, also um die Begleitung im Kontext der Begrenzung oder Änderung einer onkologischen Therapie, denken wir wie andere Menschen auch in Evidenzkategorien.
Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Therapie nutzt oder eher schadet? Und wie bekommt man das abgewogen? Solche Entscheidungen, die auch vom Allgemeinzustand der Patient:innen abhängen, lassen sich nicht am grünen Tisch treffen. Es funktioniert auch nicht, Arztbriefe zu lesen, sondern es braucht den Kontakt und die Beziehung zum Erkrankten. Das würde ich aber nicht Intuition nennen, eher Erfahrung.
Intuition spielt in der Palliativmedizin eine bedeutende Rolle, wenn es darum geht abzuschätzen, wann ein Mensch in die Sterbephase eintritt.
Es mag merkwürdig klingen, aber auch in der Palliativmedizin ist das ein Bauchgefühl. Auch die S3-Leitlinie zur Palliativmedizin hilft hier nicht wirklich weiter, denn die Kriterien, die dort genannt werden, können auch auf Situationen zutreffen, in denen Menschen ganz sicher nicht sterben. Deshalb spielt in dieser Situation Intuition tatsächlich eine wichtige Rolle. In diesem Kontext muss man sich vergegenwärtigen, dass es große therapeutische Konsequenzen hat, wenn man einen Menschen als sterbend bezeichnet. Das bedeutet, dass alle Maßnahmen, die in dieser irreversiblen Situation nicht mehr zielführend sind, zu beenden sind.
Hier hat es sich als hilfreich erwiesen, die Bewertung der Situation gemeinsam mit dem Pflegepersonal vorzunehmen. Denn die Pflege hat in dieser Sache fast immer recht.
Ist es neben der reinen Symptomlinderung nicht auch wichtig, Betroffene bei der Bewältigung von Sorgen und Nöten zu unterstützen?
Alt-Epping: Die Linderung von Belastungen kann nicht einmal ansatzweise auf rein physische Symptome eingegrenzt werden. Natürlich ist es im palliativ-medizinischen Kontext eine wesentliche ärztliche Aufgabe, Pharmakotherapie zu betreiben. Das ist das, was wir gelernt haben. Aber wie man auch im pflegerischen und psychosozialen Umfeld eine Erkrankungssituation auffangen kann, ist mindestens ebenso wichtig. Beides bedingt sich im Übrigen auch wechselseitig.
Wenn im häuslichen Umfeld Not ist, wenn die Familie unter Druck steht und ein Mensch am Umgang seines Umfelds mit dieser schweren Erkrankung wirklich leidet, dann wird man möglicherweise auch die somatischen Probleme wie Schmerzen, Atemnot, Unruhezustände, Schlafstörungen oder Übelkeit nicht gut in den Griff bekommen. Es gilt deshalb, die physischen und psychosozialen Symptome als „Paket“ zu verstehen und sinnvoll zu begleiten.
Welchen Stellenwert nimmt der Patientenwille gegenüber der medizinischen Indikation ein?
Alt-Epping: Wenn in Deutschland ein Mensch eine Therapie ablehnt und frei verantwortlich dazu in der Lage ist, dann darf diese Therapie nicht durchgeführt werden. Es ist grundgesetzlich verbrieft, dass er oder sie Behandlungen ablehnen darf, selbst wenn es aus therapeutischer Sicht unsinnig erscheint.
In der Onkologie sehe ich die Schwierigkeit eher andersherum, nämlich dann, wenn ein Mensch sich Therapien wünscht und möglicherweise vehement einfordert, die aus medizinischer Sicht nicht (mehr) indiziert sind und ein schlechtes Nutzen-Belastungs-Verhältnis aufweisen. Rein juristisch ist die Sache auch hier klar: Eine Ärztin oder ein Arzt darf keine Therapie durchführen, die sie/er für nicht indiziert hält, nur weil sie gewünscht oder eingefordert wird.
In der Praxis ist das natürlich nicht ganz so einfach. Da gibt es einen großen Graubereich, in dem Verhandlungen möglich sind, ob bei einer Therapie noch eine gute Balance zwischen Nutzen und potentiellem Schaden möglich ist. Das ist auch vollkommen in Ordnung.
Manchmal müssen wir als Ärztinnen und Ärzte aber auch den Rücken durchdrücken und sagen: Es tut mir leid, diese Therapie kann ich Ihnen jetzt nicht mehr geben, weil sie nur verheerenden Schaden anrichten würde, aber nicht mehr nutzt.
Wie bedeutsam ist gute Kommunikation in der Palliativmedizin?
Alt-Epping: Kommunikation gehört zu den wichtigsten Werkzeugen, die wir haben. Natürlich können wir auch Pharmakotherapie und viele pflegerische Möglichkeiten in die Waagschale werfen, aber in den meisten Therapiesituationen geht es um das Gespräch. Es ist zwingend, dass man diesem Gespräch mit den Betroffenen sowohl Zeit als auch Raum gibt.
Dabei ist Offenheit am Lebensende wesentlich. Die Idee, was eigentlich mit mir passiert, wenn die Erkrankung schlimmer wird, steht von Anfang an wie ein unsichtbarer Elefant im Raum. Das aufzugreifen und zu sagen, lassen Sie uns darüber sprechen, auch über potentielle Konsequenzen und mögliche Krisen, ist hart für die Betroffenen. Aber am Ende eines solchen Gespräches gibt es meist ein dickes „Danke“. Denn es stellt für Patient:innen ein Stück Sicherheit wieder her, wenn wichtige Fragen geklärt sind. Wer kümmert sich, wenn es mir schlechter geht? Wer soll angerufen werden? Welche medikamentösen Optionen gibt es? Für die Betroffenen bedeutet das: Ich habe in den Abgrund geschaut, weiß aber jetzt, was ich tun kann und wie ich Hilfe bekomme. Das erleichtert.
Wie wichtig ist in diesem Kontext die Patientenverfügung?
Alt-Epping: Gerade wenn es um Krisenplanung geht, ist die Patientenverfügung extrem wichtig. Wenn Patient:innen die Diagnose einer inkurablen Tumorerkrankung erhalten, kann man abschätzen, in welche Richtung eine solche Erkrankung in etwa verlaufen wird und welche potentiellen Krisen und Notfälle ggf. eintreten können. Das kann in der Verfügung konkret ausgestaltet und ausformuliert werden – je konkreter, desto besser. Das ist auch einer der Gründe, warum eine Patientenverfügung ärztlich betreut werden sollte.
Noch wichtiger als die Patientenverfügung ist aber die Vorsorgevollmacht, in der Patient:innen selbst festlegen, wer für sie sprechen soll, wenn sie selbst nicht mehr einwilligungsfähig sind.
Was wünschen Sie sich für Ihr Fach-gebiet für die Zukunft?
Alt-Epping: Ich wünsche mir mehr Selbstverständlichkeit in der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen medizinischen Disziplinen – und zwar von allen Seiten. Auch in der Palliativmedizin ist man gelegentlich etwas schablonenartig unterwegs. Es wäre schön, wenn man die Zusammenarbeit auch niederschwellig verstehen würde, dass man erkennt, dass es gar nicht schlimm ist, wenn man sich gegenseitig zurate zieht.
Denn Patient:innen akzeptieren in aller Regel problemlos, wenn auch einmal eine Palliativärztin oder ein Palliativarzt erscheint, und geraten nicht in Not, nur weil Palliativmedizin auf dem Namensschild steht. Insofern würde ich mir diesbezüglich mehr Gelassenheit von allen Seiten wünschen.
Herr Prof. Alt-Epping, vielen Dank für das interessante, wichtige Gespräch
Das Interview führte
Dr. Claudia Schöllmann.