Interview mit Prof. Mathias Heikenwälder, Heidelberg
„Wir müssen endlich anerkennen, dass chronische Entzündungsprozesse bedeutende Krebstrigger sind“
Chronische Entzündungen sind maßgeblich an der Tumorentstehung und Metastasierung beteiligt. Diese Erkenntnis ist nicht wirklich neu, findet aber bisher so gut wie keinen Eingang in therapeutische oder präventive Strategien. Prof. Mathias Heikenwälder, der die Abteilung „Chronische Entzündungen und Krebs“ am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg leitet, möchte das ändern. Er forscht nicht nur über entzündungsinduzierte Mechanismen der Tumorgenese und Metastasierung insbesondere in der Leber, sondern entwickelt in enger Zusammenarbeit mit Kliniken neue Modelle und Therapieansätze. „Trillium Krebsmedizin“ sprach mit dem Naturwissenschaftler über seine Forschungsdaten, die Problematik klassischer Tumortherapien sowie moderne Strategien zur Prävention und Behandlung von Krebserkrankungen. Prof. Heikenwälders herausragende Forschungstätigkeit wurde soeben mit dem Deutschen Krebspreis 2022 in der Kategorie „Experimentelle Forschung“ ausgezeichnet.
Herr Prof. Heikenwälder, wie eng ist der Zusammenhang zwischen chronischen inflammatorischen Prozessen und der Krebsentstehung bzw. -progression?

Prof. Mathias Heikenwälder ist Abteilungsleiter und W3-Professor am Deutschen Krebs-forschungszentrum (DKFZ) Heidelberg und leitet dort die Abteilung „Chronische Entzündungen und Krebs“. Prof. Heikenwälder ist Mitglied verschiedener Fachgesellschaften, seit 2019 auch Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina.
Heikenwälder: Die Assoziation ist bedeutend enger, als viele denken. So lösen etwa Hepatitis-B- und -C-Viren chronische Leberentzündungen aus; diese führen zu Lebererkrankungen, die wiederum mit der Entstehung hepatozellulärer Karzinome assoziiert sind. Auch andere Tumorerkrankungen sind direkt oder indirekt mit Viren oder anderen Erregern assoziiert – denken Sie beispielsweise an humane Papilloma-Viren (HPV) bei Zervix- und Kopf-/Hals-Tumoren, Helicobacter pylori bei gastrointestinalen Tumoren, HIV bei diversen Tumoren oder sogar Parasiten wie Schistosomen. Hinzu kommen Toxin-induzierte Krebserkrankungen, vor allem bedingt durch Rauchen, Alkohol-Abusus oder fettreiche Ernährung, an denen ebenfalls indirekt und direkt pro-karzinogene pro-inflammatorische Prozesse beteiligt sind.
Insgesamt, das wird viele verwundern, ist die große Mehrheit aller Tumorerkrankungen entzündungsinduziert, entweder durch Infektionen oder Toxine. Nur jede fünfte Krebserkrankung ist rein genetisch bedingt. Entzündungsprozesse sind also nicht nur unser „Freund“, etwa im Sinne einer erhöhten Tumorsurveillance, sondern auch bedeutende Trigger der Krebsentstehung und auch -progression.
Wie kann man sich den Zusammenhang zwischen Entzündung und Tumorgenese speziell in der Leber vorstellen?
Heikenwälder: In der Leber von Patient:innen mit chronischer Hepatitis B und C finden wir Entzündungsstrukturen, die permanent Zytokine freisetzen. Hepatozyten, die in diesen Strukturen lokalisert sind, werden von diesen Entzündungssignalen beeinflusst und beginnen zu proliferieren oder auch abzusterben. Das dadurch entstehende Microenvironment triggert chronische Proliferationsprozesse und erhöht das Risiko für DNA-Schäden und chromosomale Alterationen. Wird dieser Prozess nicht gestoppt, kann die geschädigte und mutierte Leberzelle den Entzündungsherd verlassen, ins Leberparenchym einwandern und dort einen Primärtumor induzieren. Der Vorgang ist in der Realität natürlich viel komplexer. So sind z. B. auch nekro-inflammatorische Prozesse beteiligt, die Apoptose/Nekroptose auslösen. Wenn all diese Gegebenheiten vorliegen, besteht ein hohes Risiko, zu einem späteren Zeitpunkt Leberkrebs zu entwickeln.
Kann man diese Prozesse im Tiermodell nachvollziehen?
Heikenwälder: Wir können tatsächlich die Erkrankung des Menschen im Tiermodell nachbilden, wenn wir die Entzündungs-signaturen des Menschen in die Maus transferieren. Wenn das Entzündungsenvironment im Tier angeschaltet wird, etwa indem eine bestimmte Diät gegeben wird, die Fettleibigkeit und metabolisches Syndrom beim Menschen widerspiegelt, entwickelt das Tier eine nicht-alkoholische Fettleber (NASH) und 12–18 Monate später ein Leberkarzinom – und zwar ohne Kontakt mit einem Onkogen oder Teratogen.
Damit haben wir ein Modellsystem, bei dem durch Entzündung oder Toxine Krebs entstehen kann – in der Leber, aber auch in anderen Organen.
Findet man die enge Verflechtung von Entzündung und Krebs auch anderen Organen als der Leber?
Heikenwälder: Ja und nein. Erkenntnisse zur Leber können nicht einfach auf andere Organe übertragen werden – vor allem auch deshalb, weil die Leber ein regeneratives Organ ist, das teilweise mit Immunsuppression einhergeht. Prozesse, die denen in der Leber ähneln, finden wir im Gastrointestinal- oder Urogenitaltrakt.
Auf der anderen Seite kennen wir auch Organe, bei denen entzündliche Mechanismen für die Prognose sogar günstig sind – im Tumor oder in der direkten Tumorumgebung. So ist beispielsweise im Gehirn oder in der Lunge ein bestimmtes Entzündungsmuster mit einer guten Prognose assoziiert.
Das bedeutet: Es hängt auch von der Umgebung, dem Charakter des jeweiligen Organs und der Qualität der Entzündung ab, ob es zu einem Krebs-treibenden oder Krebs-reduzierenden Effekt kommt.
Gibt es auch einen Zusammenhang zwischen Entzündung und Metastasierung?
Heikenwälder: Ja. Wir wissen, dass Entzündungsherde im Tumorenvironment existieren, die die Metastasierung fördern. Tumorzellen setzen aber auch selbst Entzündungsmediatoren frei, die es ihnen erleichtern, durch Endothelien zu penetrieren und in Gefäße einzudringen. Chronische Entzündungsprozesse in einem Organ begünstigen zudem die Ansiedlung ausgewanderter Tumorzellen.
Sind Ihre Erkenntnisse in präventive oder therapeutische Strategien umsetzbar?
Heikenwälder: Eine vielversprechende Strategie besteht darin, anti-inflammatorische Interventionen als prophylaktische Maßnahmen bei Hochrisikopatient:innen einzusetzen. Damit soll verhindert werden, dass präneoplastische Läsionen, die bereits zum Zeitpunkt der Entzündung bestehen, zu manifesten Tumoren auswachsen können. Zu dieser Strategie liegen uns bereits spannende Daten vor.
Viel schwieriger ist es dagegen, Patient:innen mit bereits vorhandenen Tumoren zu behandeln. Da ist noch viel Forschungsarbeit zu leisten. Was wir aber bereits wissen, ist, dass das Unterdrücken von Entzündungsmechanismen bei bestimmten Tumorentitäten das Rezidivrisiko vermindern kann, beispielsweise nach der operativen Resektion von Primärtumoren.
Wo genau liegen die Schwierigkeiten im therapeutischen Setting?
Heikenwälder: Wir müssen erkennen, dass Monotherapien – ähnlich wie Monokulturen in der Landwirtschaft – dazu beitragen, dass Resistenzen auftreten. Bei Tumorzellen entstehen ja ständig Mutationen – quasi eine Evolution in der Nussschale. Die Zellen, die einen Wachstumsvorteil haben, werden herauswachsen und sind dann resistent gegenüber der derzeitigen Therapie.
Wenn wir bei der Leber bleiben, müssen wir beispielsweise konstatieren, dass eine Behandlung fortgeschrittener Tumorstadien mit den Tyrosinkinase-Inhibitoren Sorafenib oder Lenvatinib zwar im Mittel das Überleben der Patient:innen verlängert, doch ist der Benefit lediglich moderat – bei mitunter eingeschränkter Lebensqualität. Diese Therapien sind anfangs erfolgreich, selektionieren aber durch ihre antiangiogene Wirksamkeit längerfristig aggressivere Tumoren, die auch unter hypoxischen Bedingungen proliferieren und sich auch besser im Organismus verteilen können.
Oder nehmen wir Chemotherapien bei anderen Tumorentitäten. Manche Patient:innen sprechen zunächst gut auf die Behandlung an, aber dennoch treten meist Rezidive auf. Warum? Weil in der Regel so lange behandelt wird, bis eine oder wenige Monokulturen von Zellen übrigbleiben, die trotz Therapie noch proliferieren können. Der Tumor verliert unter der Therapie also zunehmend seine Heterogenität. Kommt dann ein weiterer Stimulus hinzu, etwa eine Mutation, proliferieren die verbliebenen Zellklone besonders aggressiv – auch unter laufender Therapie – und sind nun resistent gegenüber Zytostatika geworden.
Wie könnte man diesem Dilemma entkommen?
Heikenwälder: Es gibt viele neue Ideen, wie es gelingen kann, Krebs besser in Schach zu halten. Diese Ansätze werden momentan in einer Vielzahl von klinischen Studien geprüft, haben aber bisher vielfach noch nicht den Weg in den klinischen Alltag gefunden. Einem Großteil dieser Ansätze liegt das Prinzip zugrunde, dass man bestimmte Krebsformen nur unter Kontrolle halten, nicht aber komplett eliminieren kann – und im Übrigen auch nicht muss.
Eine dieser Strategien könnte darin bestehen, durch geschickt gewählte Therapiestrategien verschiedene Populationen von Tumorzellen zu erhalten, sodass diese in einem „steady state“ bleiben und nicht zu proliferieren beginnen. Die adäquate Dosierung der Medikamente ist dabei von großer Bedeutung; ebenso wesentlich ist der richtige, personalisierte Einsatz von Kombinationstherapien.
Weiterhin könnte das Monitoring der Patient:innen verbessert werden. So könnte man den Escape-Mechanismen des Tumors als Folge einer Chemotherapie oder zielgerichteten Therapie durch regelmäßig durchgeführte Biopsien auf die Spur kommen und frühzeitig therapeutisch intervenieren. Mittelfristig bietet sich für ein solches Vorgehen das Verfahren der Liquid Biopsy an. Diese Art der innovativen personalisierten Medizin wird im nächsten Jahrzehnt sicher häufiger angewendet werden, sofern die Finanzierbarkeit gesichert ist.
In jüngster Zeit haben Immuncheckpoint-Inhibitoren Eingang in die Therapie verschiedener Tumorentitäten gefunden – auch des hepatozellulären Karzinoms. Wie ordnen Sie das ein?
Heikenwälder: Der Einsatz moderner Immunonkologika ist ein Meilenstein in der Krebsmedizin, weil man damit die Ansprechraten in Patienten-Kohorten von vormals 10 % auf mindestens 30 bis 40 % erhöhen kann. Checkpoint-Inhibitoren reaktivieren das Immunsystem, das bei Tumorerkrankungen inhibiert ist. Das hat zur Folge, dass Immunzellen nicht mehr erschöpfen und damit ihre zuvor eingeschränkte Anti-Tumorfunktion wieder in vollem Umfang ausüben können.
Allerdings: Speziell in Organen wie der Leber, in denen chronische Entzündungen und Krebs parallel nebeneinander existieren, ist auch Vorsicht geboten. Denn Checkpoint-Inhibitoren können die Inflammation verstärken und damit sogar die Tumorgenese fördern. Für Patient:innen, die nicht auf Immunonkologika ansprechen, kann sich das Outcome eventuell sogar verschlechtern.
Ich halte es deshalb für entscheidend, anhand bestimmter Marker diejenigen Patientengruppen zu selektionieren, die von der Behandlung profitieren. Solche personalisierten Biomarker sind derzeit Gegenstand intensiver Forschungstätigkeit. Aber auch durch die Kombination mit verschiedenen Therapeutika kann das Potential von Checkpoint-Inhibitoren in den kommenden Jahren aller Voraussicht nach noch deutlich verbessert werden. Dieses Konzept wird bereits in unzähligen klinischen Studien weltweit verfolgt und hat teilweise auch schon Eingang in den klinischen Alltag gefunden.
Um es abschließend noch einmal auf den Punkt zu bringen: Was sind die wichtigsten praktischen Erkenntnisse aus Ihrer Forschungsarbeit?
Heikenwälder: Da die meisten Tumorerkrankungen auf dem Boden einer chronischen Entzündung entstehen – ausgelöst und getriggert durch Infektionen oder Toxine –, ist Prävention von enormer Bedeutung. Der beste Schutz vor Krebs ist ein gesunder Lebensstil mit einer ausgewogenen, nicht zu fettreichen Ernährung und Sport. Außerdem sollte die Exposition gegenüber onkogenen Viren und/oder Toxinen auf ein Minimum beschränkt werden.
Herr Prof. Heikenwälder, vielen Dank für das interessante und informative Gespräch und unsere herzlichen Glückwünsche zum Deutschen Krebspreis!
Das Interview führte
Dr. Claudia Schöllmann.