Interview mit Prof. Yurdagül Zopf, Erlangen
„Muskelabbau muss als bedeutender Risikofaktor für onkologische Patienten erkannt werden"
Krebspatienten sind im Verlaufe ihrer Erkrankung häufig von Mangelernährung und ungewolltem Gewichtsverlust betroffen, insbesondere von einem Abbau an Muskelmasse. Obwohl Muskelabbau die Lebensqualität der Patienten stark einschränkt und mit einer schlechteren Prognose einhergeht, wird er häufig erst spät erkannt und nicht immer angemessen behandelt. Trillium Krebsmedizin sprach mit der Gastroenterologin und Ernährungsmedizinerin Frau Prof. Yurdagül Zopf vom Universitätsklinikum Erlangen über die Ursachen der Sarkopenie, die auch bei stark über-gewichtigen Patienten zum Tragen kommt, und über wirkungsvolle Maßnahmen zur ernährungstherapeutischen Stabilisierung der Patienten.
Schlüsselwörter: Mangelernährung, Muskelabbau, Sarkopenie, Ernährungstherapie, Gewichtsverlust, Adipositas, erhöhter Proteinbedarf, Trinknahrung, Inflammation, Muskelaufbau, Kombination von Ernährung und Sport, onkologische Patienten, Ernährungsmedizin
Warum ist Gewichtsverlust bei fortgeschrittenen Tumorerkrankungen so schädlich?
Zopf: Ungewollter Gewichtsverlust betrifft nicht nur Patienten in fortgeschrittenen Tumorstadien, wenngleich er dort am offensichtlichsten ist, sondern tritt häufig auch schon im früheren Verlauf einer malignen Erkrankung auf. Heute wissen wir, dass es weniger der Gewichtsverlust als solcher, sondern vielmehr der Abbau von Muskelmasse und der Verlust an Muskelkraft (Sarkopenie) ist, die die Patienten schwächen, ihre Lebensqualität vermindern und die Neigung verstärken, unter einer Tumorbehandlung Nebenwirkungen zu entwickeln. All dies geht mit einer sich deutlich verschlechternden Prognose für die Patienten einher.
Was sind die wesentlichen Gründe für den Muskelabbau?
Zopf: Die Gründe sind vielfältig. Zum einen nehmen Tumorpatienten oft deutlich weniger Nahrung zu sich, als sie eigentlich bräuchten. Dadurch entstehen Nährstoffverluste, die den Protein- und Muskelabbau beschleunigen. Hinzu kommt, dass die Krebserkrankung selbst, aber auch die Tumortherapie die Nahrungsverwertung der Patienten in Mitleidenschaft ziehen und den Appetit vermindern können. Auch Nebenwirkungen der Tumortherapie, wie Übelkeit, Erbrechen oder Durchfälle, begünstigen einen teils massiven Gewichtsverlust. Erschwerend kommt hinzu, dass Krebspatienten häufig körperlich inaktiv sind, was den Abbau von Muskelmasse weiter unterstützt. Entscheidend für den ungewollten Verlust von Muskelmasse ist aber, dass die Patienten im Laufe ihrer Erkrankung von einer systemischen Entzündung betroffen sind, die durch die Auseinandersetzung des Organismus mit dem Tumorgewebe ausgelöst wird. Diese geht mit einer katabolen Stoffwechsellage einher, die den Abbau von Muskelmasse fördert und ihren Neuaufbau verlangsamt (Tumorkachexie). Aus der Tumorentzündung resultiert natürlich auch ein starkes Unwohlsein der Patienten, das weiter schwächt und den Gewichtsverlust zusätzlich befördert. Ein Teufelskreis!
Betrifft Sarkopenie auch übergewichtige und adipöse Patienten?
Zopf: Absolut, darauf kann man gar nicht oft genug hinweisen. Stark Übergewichtige sind sogar besonders gefährdet, weil sie in der Regel schon vor ihrer Krebserkrankung, bedingt durch Bewegungsmangel, eine schlecht ausgebildete Muskulatur haben. Die Krebserkrankung und die Tumortherapie beeinträchtigen den Muskelstatus zusätzlich. Zudem täuscht das wohlgenährte Aussehen von Übergewichtigen leicht über die schwach ausgeprägte Muskulatur hinweg, sodass ein Verlust an Muskelmasse nicht auffällt. Schnell entsteht die Meinung, dass ein paar Kilo Gewichtsabnahme nicht schaden können. Das Fatale daran: Der Gewichtsverlust geschieht meist zu Lasten der dringend benötigten Muskelmasse und nicht zu Lasten des Fettabbaus. Der Effekt ist, dass eine sarkopene Adipositas bei Krebspatienten häufig erst spät erkannt wird, und die Patienten erst dann einer ernährungs- und sporttherapeutischen Intervention zugeführt werden, wenn bereits massiv Muskelmasse verlorengegangen ist.
Wie kann man den Gewichtsverlust bei Übergewichtigen erkennen?
Zopf: Wichtig ist, dass der ungewollte Gewichtsverlust erfasst und dokumentiert wird. Für das Screening des Ernährungsstatus stehen einfache Screeningverfahren und bei Auffälligkeiten verschiedene Methoden zum Ernährungs-Assessment zur Verfügung. Ein erster wichtiger Hinweis ist die Aussage des Patienten, dass er ohne wesentlich geänderte Lebensgewohnheiten Gewicht verloren hat. Nun müssen wir achtsam erfassen, ob dieser ungewollte Gewichtsverlust zu Lasten der Muskelmasse geht. Dazu können wir heute mit entsprechenden Methoden wie z. B. der Bioimpedanzanalyse die Körperzusammensetzung zuverlässig messen. Wenn wir dann einen Verlust an Muskelmasse feststellen, ist klar, dass eine Sarkopenie vorliegt. Dieses Wissen ist entscheidend für den weiteren Verlauf der ernährungsmedizinischen Behandlung.
Ab wann sollte ernährungstherapeutisch eingegriffen werden?
Zopf: Grundsätzlich braucht jeder onkologische Patient unabhängig von seinem Tumortyp primär eine ernährungstherapeutische Beratung, denn meist haben Tumorpatienten einen erhöhten Proteinbedarf und benötigen daher eine erhöhte Proteinzufuhr. Deshalb halte ich es für obligat, dass allen Patienten ein Gespräch einer Ernährungsfachkraft angeboten werden sollte. Neben dem erhöhten Proteinbedarf sind erkrankungsspezifische Faktoren zu berücksichtigen. So betreuen wir etwa Mammakarzinompatientinnen, die – bei Erhalt der Muskelmasse – eher Fett abbauen sollten, während Patienten mit gastrointestinalen Tumoren oft an einem massiven Kachexiezustand leiden. Eine Intervention ist immer dann geboten, wenn die Analyse der Zusammensetzung der Nahrung des Patienten ein Protein- oder Kaloriendefizit und/oder einen Mangel an Mikronährstoffen ergibt. Dann muss man gezielt eingreifen.
Zunächst wird man immer versuchen, die orale Ernährung vor allem im Hinblick auf die Zufuhr von mehr Proteinen zu optimieren, was allerdings in der Praxis nicht so einfach ist. Magen- und Darmprobleme bzw. die erwähnten Transportstörungen im Darm erschweren oftmals, den Energie- und Nährstoffbedarf durch eine optimierte normale Ernährung zu decken. Was durch die normale Ernährung nicht erreicht werden kann, muss durch Supplemente, beispielsweise künstliche Trinknahrungen, ergänzt werden.
Entscheidend ist, dass der Patient versteht, warum er diese Präparate braucht. Es handelt sich letztlich um einen medizinischen Bedarf. Hier ist die Kommunikation mit dem Patienten extrem wichtig. Es bedarf einer gezielten Aufklärung, damit der Patient die Bedeutung einer stabilen Muskulatur versteht, und einsieht, warum die ernährungstherapeutische Intervention notwendig ist. Natürlich ist jeder Patient mit seiner Persönlichkeit und Zugänglichkeit individuell zu betrachten. Eines steht aber fest: Eine lapidare Erklärung, dass von heute an ein erhöhter Eiweißbedarf notwendig ist, ist keinesfalls ausreichend.
In welchen Phasen einer Tumorerkrankung ist eine stärkere Intervention sinnvoll?
Zopf: Wenn ein Patient an einer fortgeschrittenen Erkrankung leidet oder sich in einer tumoraktiven Behandlung befindet, ist die Notwendigkeit einer Interaktion in der Regel besonders groß, da die Chemo- und Strahlentherapie die Anorexie verstärken kann.
Aufhören mit der Ernährungstherapie müssen wir dann, wenn wir erkennen, dass der Patient in einem präfinalen Stadium ist, weil die Nährstoffe, die wir geben, dann nicht mehr verwertet werden können (refraktäre Kachexie). Die Entscheidung, wann eine Ernährungstherapie keinen Nutzen mehr erwarten lässt, ist allerdings nicht immer ganz einfach. Wenn beispielsweise ein Patient bis dato schlecht geführt wurde, kann auch in einem sehr späten Stadium der Erkrankung eine Intervention sinnvoll sein.
Ich erinnere mich an eine junge Patientin Mitte 30 mit einer weit fortgeschrittenen Tumorerkrankung, die niemals zuvor ernährungstherapeutisch beraten worden war. Wir haben bei der sehr schwachen Patientin, auch weil es ihr Wunsch war, trotz ihrer begrenzten Lebensspanne eine Ernährungstherapie und ein spezielles Muskeltraining durchgeführt, worauf sie einen massiven Muskelaufbau entwickelt und sich ihr Zustand sehr gebessert hat.
Wann reichen Trinknahrungen nicht mehr aus, um den erhöhten Bedarf zu decken?
Zopf: Dieser Punkt ist erreicht, wenn eine ausreichende orale Zufuhr nicht mehr möglich ist, etwa wenn der Patient Schluckbeschwerden hat oder aufgrund von Magen- und Darmproblemen die Nahrung gar nicht mehr aufnehmen kann. In diesem Fall kann die Trinknahrung die Probleme sogar noch verschlimmern, etwa wenn der Patient eine Abneigung entwickelt, etwas zu trinken. Sobald wir merken, dass der Nährstoffbedarf vor allem an Protein durch Trinknahrungen nicht mehr gedeckt werden kann, dann ist die Indikation für eine parenterale oder enterale Ernährung gegeben.
Wie kann Sport die ernährungsmedizinische Intervention sinnvoll unterstützen?
Zopf: Gezielte sportliche Aktivität, insbesondere Muskeltraining, sollte unbedingt Bestandteil eines therapeutischen Gesamtkonzeptes bei Tumorkachexie sein. Wir haben in den letzten Jahren gelernt, dass Ernährung allein nicht ausreicht, um die Muskulatur aufzubauen oder zu stabilisieren. Wir können uns in dieser Hinsicht an gesunden Sportlern orientieren: Ohne sportliche Betätigung und bedarfsgerechte Ernährung gibt es keinen wirklichen Muskelaufbau. Auch der Tumorpatient braucht unbedingt die Kombination aus Ernährung und konsequentem Sport. Wir haben Erfahrungen mit höchst fortgeschrittenen Tumorerkrankten, die durch diese Kombination nach 3 Monaten mitunter 4–5 kg an Muskelmasse zunehmen. Das ist weder mit alleiniger Ernährungs- noch mit alleiniger Bewegungstherapie zu erreichen.
Das Trainingskonzept muss individuell auf den Patienten abgestimmt werden. Wir haben sehr gute Erfahrungen mit der Kombination von Krafttraining und Ausdauer-/Intervalltraining zur Stabilisierung des Herz-/Kreislaufsystems gemacht.
Für ganz schwache Patienten, für die keine konventionellen Sportmaßnahmen mehr möglich sind, haben wir in Erlangen auch sehr gute Erfahrungen mit der Elektromyostimulation gemacht. Hier sehen wir nicht selten, dass die Patienten sich nach einer dreimonatigen Therapie so stabilisiert haben, dass anschließend auch ein „normales“ Training möglich wird.
Wäre es nicht sinnvoll, auch die Inflammation medikamentös zu bekämpfen?
Zopf: Es gibt verschiedene wissenschaftliche Ansätze, die das Ziel verfolgen, die Tumorentzündung zu bekämpfen. Wir selbst führen Studien durch, in denen bestimmte Fettsäuren und Proteinmischungen eingesetzt werden, um der Inflammation gezielt entgegenzuwirken. Es gibt aber momentan noch keine evidenzbasierten Verfahren, die in der klinischen Routine einsetzbar wären.
Was kann die Kombi Ernährung plus Sport insgesamt leisten?
Zopf: Zunächst können wir die Lebensqualität der Patienten verbessern. Die Patienten sind körperlich aktiver und stabiler. Sie sind auch eher in der Lage, die tumorspezifische Therapie durchzuführen und entwickeln weniger Nebenwirkungen.
Weiterhin bin ich davon überzeugt, dass wir durch Ernährung und Sport auch die Prognose des Patienten verbessern können – indirekt und direkt.
Eine indirekte Prognoseverbesserung sehe ich darin, dass Patienten mitunter erst dann an eine onkologische Therapie heranführt werden können, nachdem sie sich körperlich stabilisiert haben. Wir haben schon viele Patienten betreut, die primär für eine Operation oder eine Chemotherapie zu schwach waren. Nachdem sie stabiler waren, war dann sehr wohl eine Therapie möglich – mit positiven Auswirkungen auf die Prognose. Unsere Erfahrungen zeigen aber auch – und das deckt sich mit wissenschaftlichen Hinweisen –, dass Muskelaufbau durch Ernährung und Sport auch direkt die Prognose der Patienten verbessern, unter anderem dadurch, dass Muskelaufbau antiinflammatorisch wirkt und so der Tumorentzündung entgegenwirkt. Es gibt aber leider noch keine ausreichend guten Studien zu dieser Thematik, sodass wir evidenzbasiert derzeit keine gesicherten Aussagen treffen
können.
Was würden Sie sich für die Zukunft der Ernährungsmedizin in Deutschland wünschen?
Zopf: Ich wünsche mir politisch eine deutlich bessere Unterstützung. Das Wissen über die Bedeutung der Ernährungstherapie für onkologische Patienten ist da, aber es fehlt vielerorts die Umsetzung. Wir haben in Deutschland viel zu wenige ernährungsmedizinische Institute – man kann sie an einer Hand abzählen –, und selbst diese werden eher ab- als aufgebaut. In den großen Kliniken, speziell den Universitätskliniken, müsste Ernährungstherapie noch mehr in den Fokus rücken. Ich wünsche mir, dass die wichtigen Elemente Ernährung und Sport direkt im Rahmen eines therapeutischen Gesamtkonzepts bei Krebserkrankungen an Zentren angeboten werden, die sich mit dem Thema auskennen. Dies wäre gleichbedeutend mit einer deutlichen Erweiterung der tumorspezifischen Therapie – im Sinne unserer Patienten.