Seltene Tumoren: Die Lage ist nicht ganz hoffnungslos

Editorial

Seltene Erkrankungen sind in Europa definiert als Leiden, an denen jeweils weniger als fünf von 10.000 Menschen erkrankt sind. Die European Medicines Agency (EMA) bietet auf ihrer Website eine Tabelle mit Prävalenz-Daten solcher Erkrankungen. Das Projekt "Surveillance of Rare Cancers in Europe (RARECARE; www.rarecare.eu/rarecancers/rarecancers.asp) schlägt jedoch eine alternative Definition vor, die sich an der Inzidenz, also an den Neudiagnosen orientiert: Danach wären seltene Krebserkrankungen solche, die bei weniger als sechs von 100.000 Einwohnern pro Jahr dia­gnostiziert werden. Damit umgeht man das Dilemma, dass selten auftretende Erkrankungen, die regelmäßig geheilt werden und dadurch eine hohe Prävalenz aufweisen (z. B. Hodentumoren), in die Kategorie häufigerer Tumoren eingeordnet werden.

Eine halbe Million Neu­erkrankungen in Europa pro Jahr

Der Internet-Seite rarecancers­europe.org zufolge leiden mehr als vier Millionen Patienten in Europa an seltenen Krebserkrankungen, und rund eine halbe Million erkrankt jährlich neu an einem solchen Leiden. Die seltenen Tumoren lassen sich in etwa ein Dutzend verschiedene "Familien" einteilen und betreffen praktisch alle Organsysteme (Abb.). Da es rund 200 solche Krankheitsentitäten gibt, verwundert es nicht, dass alle zusammengenommen trotz ihrer Seltenheit im Einzelnen ungefähr 22% aller Krebserkrankungen ausmachen – darunter seltene solide Tumoren des Erwachsenen (13%), seltene hämatologische Malignome (8%) sowie sämtliche pädiatrischen Tumoren (1%).

Auch häufige Tumoren zerfallen in seltenere Subspezies

Wenn man die Angelegenheit weiterdenkt, wird die Liste seltener Krebserkrankungen künftig immer länger werden, weil selbst häufige Entitäten wie das nicht-kleinzellige Lungenkarzinom 

(NSCLC) oder das kolorektale Karzinom mit fortschreitender molekularpathologischer Charakterisierung in eine Vielzahl von Untergruppen zerfallen, in denen sich oft nur sehr wenige Patienten finden und die meist einer ganz spezifischen Therapie bedürfen.

Die Seltenheit dieser Erkrankungen stellt die klinische Forschung vor ganz eigene Probleme: 

  • Die Diagnose erfolgt häufig spät und ist oft nicht sehr zuverlässig.
  • Es gibt für viele dieser Erkrankungen wenig klinische Expertise und oft keine überprüften Therapieoptionen.
  • Der Goldstandard bei der Entwicklung und Zulassung neuer Behandlungsoptionen ist die randomisierte, kontrollierte Studie, die aber bei den geringen Patientenzahlen schwierig bis gar nicht organisiert werden kann.
  • Das Interesse für die Entwicklung von Medikamenten hält sich wegen des sehr überschaubaren Marktes in Grenzen.
  • Es gibt für viele dieser Erkrankungen nicht einmal Register und Gewebebanken, die einen – wenn auch unvollkommemen – Ersatz für kontrollierte Studien darstellen könnten.

Das Problem bei seltenen Tumoren ist damit klar: Randomisierte Studien mit ausreichenden Patientenzahlen zu organisieren, ist hier extrem schwierig. Dafür bedarf es entweder internationaler Anstrengungen oder es werden zunächst sogenannte „Basket“-Studien durchgeführt, in denen man eine Reihe von Entitäten zusammenfasst, mit einer neuen Therapie behandelt und auf erste Signale für eine mögliche Wirksamkeit achtet, die die Durchführung größerer und aufwendigerer Studien rechtfertigen könnten.

Hoffnung auf neue Entwicklungen

Allerdings besteht auch Hoffnung: Die bereits angesprochene zunehmende Unterteilung auch häufigerer Tumorentitäten in Subgruppen, die durch spezifische molekulare Merkmale gekennzeichnet sind, hat nicht zur Vernachlässigung dieser seltenen Varianten, sondern im Gegenteil zur raschen Entwicklung spezifischer Medikamente geführt, die oft ausschließlich für die betreffenden Subgruppen angewendet werden – auf der Basis der entsprechenden Biomarker. So wird zehn Jahre nach der ersten Zulassung eines EGFR-Inhibitors für NSCLC mit aktivierenden EGFR-Mutationen bereits an der vierten Generation dieser Medikamente gearbeitet, und auch für die noch selteneren NSCLC-Erkrankungen mit ALK-Translokationen gibt es bereits drei zugelassene spezifische Inhibitoren.

Biomarker immer häufiger auch bei seltenen Tumoren

Der vorliegende Schwerpunkt über seltene Tumoren bietet nur eine winzige Auswahl aus deren Vielzahl, aber auch hier wird – etwa an den Beispielen des Nierenzellkarzinoms (S. 320 ff.) und der Gallenwegstumoren (S. 327 ff.) – bereits zweierlei deutlich: Zum einen hat die Tendenz zur molekularen Subklassifizierung auch die seltenen Erkrankungen bereits erfasst, und zweitens tauchen dabei Biomarker-definierte Varianten auf, die zum Teil auf bereits zugelassene, zum Teil auf aktuell in Entwicklung befindliche Medikamente ansprechen könnten. So zählen zu den häufig vorkommenden Treibermutationen bei den biliären Tumoren einige länger bekannte wie z. B. HER2, während andere (IDH-Mutationen, FGFR-Translokationen, NTRK-Fusionen) derzeit bei einer Reihe von Krebserkrankungen immer mehr in den Fokus rücken, weil sich zahlreiche zielgerichtete Medikamente dagegen in der Entwicklung befinden.

Entscheidend: Frühzeitige tumor­genetische Diagnostik

Voraussetzung für eine solche präzisionsmedizinische Behandlung von Krebserkrankungen ist allerdings eine frühzeitige tumorgenetische Diagnostik. Spätestens mit der Zulassung eines Medikaments, das auf einem genetischen Biomarker basiert, sollte die Bestimmung dieses Biomarkers integraler Bestandteil der initialen diagnostischen Aufarbeitung des betreffenden Tumors sein. Dass das nicht trivial ist, zeigt wiederum das Beispiel des NSCLC, wo auch zehn Jahre nach der ersten Zulassung eines solchen Medikaments die molekularpathologische Testung noch keine Selbstverständlichkeit ist. 

Die neuroendokrinen Tumoren (NET; S. 312 ff.) bilden eine sehr komplexe und heterogene Gruppe von Malignomen, die insgesamt keine so schlechte Prognose haben – auch wenn es große Unterschiede gibt. Die Therapien entwickeln sich weiter, u. a. auch durch zunehmende Nutzung von „zielgerichteter Strahlentherapie“ durch Nuklearmediziner. Die Autoren dieser Übersichtsarbeit betonen einen Punkt, der für alle seltenen Tumoren gilt: "Jedem Patienten sollte die Möglichkeit gegeben werden, sich an spezialisierten Zentren vorzustellen, damit in interdisziplinären Tumorkonferenzen das optimale diagnostische und therapeutische Vorgehen im individuellen Fall diskutiert werden kann."

Als extrem seltene Tumoren werden außerdem die tenosynovialen Riesenzelltumoren behandelt (S. 338 ff.), wo sich in jüngster Zeit ebenfalls neue zielgerichtete Therapieformen aufgetan haben.

Autor
Arndt Vogel, Hannover