In der Hämatologie und Onkologie verändern zwei wesentliche Entwicklungen die Behandlungsstrategien: Zum einen die immense Beschleunigung des molekularen Wissens über die Tumorgenese und über potentielle therapeutische Zielstrukturen, zum anderen die immer häufigeren und schnelleren Zulassungen neuer und oft sehr effektiver Medi- kamente. Die Komplexität der therapeutischen Entscheidungsfindung erhöht sich dadurch immer mehr, sodass zur Unterstützung des onkologisch tätigen Arztes mittlerweile eine Reihe von Hilfsmitteln angeboten wird. Während prak- tikable und finanzierbare Anwendungen von Künstlicher Intelligenz noch auf sich warten lassen, sind Smartphone-Applikationen bereits in Klinik und Praxis angekommen. Dieser Artikel bietet einen Überblick über das Gebiet und einen vorläufigen Vergleich mehrerer gängiger Apps.
Schlüsselwörter: Therapieentscheidungen in der Onkologie, Künstliche Intelligenz, Smartphone-Applikationen
In den letzten fünf Jahren wurden 63 neue Tumortherapeutika zugelassen; insbesondere PD-(L)1-gerichtete Checkpoint-Inhibitoren haben die hämato-onkologische Therapielandschaft nachhaltig verändert und zeigen eine breite, Entitäten-übergreifende Wirksamkeit. Allein 2017 kamen 14 neue, zielgerichtete Krebstherapeutika auf den Markt, von denen 11 von der FDA als bahnbrechende Therapien eingestuft wurden, die eine deutliche Verbesserung gegenüber bestehenden Therapien an klinisch wichtigen Endpunkten wie der Verbesserung des Gesamtüberlebens erbringen [1].
Noch verwirrender werden die Therapiemöglichkeiten durch die Kombination neuerer Immuntherapeutika untereinander oder in Kombination mit der klassischen Chemotherapie.
Der Innovationsschub erhöht die Komplexität auf mehreren Ebenen, da prädiktive Biomarker und diagnostische Tests die Tumortherapie weiter individualisieren und dadurch immer mehr Patienten eine personalisierte Krebstherapie erhalten, die der spezifischen biomolekularen Signatur ihrer Tumorerkrankung entspricht.
Im klinischen Alltag und insbesondere in der ambulanten Versorgung werden aber meist deutlich mehr als 20 Patienten mit den unterschiedlichsten Krebserkrankungen und zur weiteren Abklärung auffälliger Befunde gesehen. Was bleibt an Zeit, um neben dem Anspruch einer humanen Medizin mit einfühlsamer Gesprächsführung, psychosozialer Unterstützung von Patienten und Angehörigen, Organisation der Versorgung, Kommunikation mit Kollegen und den Anforderungen der Administration dieser rasanten Entwicklung zu folgen? Und wie gelingt es am besten, die Qualität der Therapieentscheidung zu gewährleisten?
Diverse Optionen bieten hier eine Unterstützung in der Entscheidungsfindung, zumal auch komplexe Entscheidungen häufig schnell getroffen werden müssen. Hierzu gehören die Leitlinien der Fachgesellschaften, Konsensus-Empfehlungen, digitale und klassische Fachzeitschriften, Klinik-SOPs und Tumorboards. In den letzten Jahren sind zudem onkologische Applikationen und auf Künstlicher Intelligenz (KI) basierte Anwendungen erhältlich, über die dieser Artikel eine Übersicht bieten soll.
Leitlinien
Onkologische Leitlinien bieten eine umfassende und evidenzbasierte Grundlage für eine Therapieentscheidung. Allerdings halten sie kaum noch mit der rasanten Entwicklung der neuen Therapieoptionen mit. Das Tempo der Zulassungen für neue, effektive und oft besser verträgliche Medikamente ist inzwischen so schnell, dass die S3-Leitlinien zum Zeitpunkt der Veröffentlichung die neuesten Behandlungsoptionen kaum berücksichtigen können. Um dies beispielhaft zu verdeutlichen: Von den 18 im Leitlinienprogramm zu soliden Tumoren gelisteten S3-Leitlinien sind 10 nicht älter als ein Jahr (Stand: Juni 2019), drei wurden seit über 5 Jahren nicht mehr aktualisiert (Pankreas-, Mundhöhlen- und Zervixkarzinom). In der Ende 2016 erschienenen Leitlinie Harnblasenkarzinom finden die bislang fünf zugelassenen Checkpoint-Inhibitoren keine Erwähnung, und selbst in der recht aktuellen Leitlinie zum Lungenkarzinom vom Februar 2018 ist die Zulassung eines Checkpoint-Inhibitors bei Patienten mit lokal fortgeschrittenen Tumoren ohne Progress nach Radiochemotherapie noch nicht aufgeführt [2, 3].
Tumorboards
Die Vorstellung eines jeden Patientenfalls in einem multidisziplinären Tumorboard mindestens zum Zeitpunkt der Erstdiagnose der Krebserkrankung ist ein Qualitätsmerkmal, das von jedem zertifizierten Tumorzentrum gefordert wird. Hierdurch kann eine individualisierte therapeutische Vorgehensweise empfohlen werden, die auf der gegebenen medizinischen Evidenz und den Erfahrungen eines interdisziplinären Teams beruht.
Ein generelles Problem von Tumorboards ist aber trotzdem die nur schwer einzuschätzende Qualität der erteilten Tumorboard-Empfehlungen. Eine 2013 erschienene Studie konnte im Vergleich von multidisziplinären Tumorboardempfehlungen gegenüber der alleinigen Behandlungsentscheidung durch einen erfahrenen Onkologen keinen Effekt bezüglich einer verbesserten Versorgungsqualität oder Überlebensrate nachweisen, und es zeigte sich, wie sehr die Qualität der Tumorboards vom Fachwissen der Teilnehmer abhängt [4]. Lag die entsprechende klinische und wissenschaftliche Expertise nicht vor, führte dies dazu, dass therapeutische Entscheidungen in Tumorboards sehr anfällig für "Eminenz-basierte" anstelle einer Evidenz-basierten Empfehlung waren.
Künstliche Intelligenz
Zu den bekannten Erfolgen der KI gehört die Niederlage 1997 des Weltmeisters Garry Kasparov gegen Deep Blue (IBM) im Schach, 2011 der Sieg von Watson (IBM) in der Show Jeopardy („Wer wird Millionär“) oder 2017 der Sieg von AlphaGo Zero (Google) gegen den koreanischen Weltmeister im Go-Spiel.
Erst kürzlich gewann die Google-Tochterfirma DeepMind mit der KI AlphaFold den US-Wettbewerb "Critical Assessment of Techniques for Protein Structure Prediction" (kurz CASP). AlphaFold ist in der Lage, die 3D-Struktur eines Proteins allein aufgrund seiner genetischen Sequenz vorherzusagen. Diese bahn-brechende Entwicklung wird eine neue Ära in Diagnostik und Medikamentenentwicklung einleiten [5].
Durch die moderne medizinische Forschung sind bereits immens große Datensätze generiert worden, und dieser Datenberg wächst täglich weiter. Da diese Datenmengen mit konventionellen Methoden nicht zu überblicken, geschweige denn auszuwerten sind, liegt es nahe, sich eines KI-Ansatzes zu bedienen. So wurde das KI-basierte Programm „Watson for Oncology“ zur onkologischen Therapiefindung eingesetzt, und die Übereinstimmung der Maschinen-Empfehlung mit den Empfehlungen eines erfahrenen, menschlichen Tumorboards als Übereinstimmungsrate („Concordance Rate“) gemessen. Trotz einiger erstaunlicher einzelner Übereinstimmungen zeigten sich in der Gesamtbetrachtung erhebliche Probleme der KI-Empfehlungen und es wurden insgesamt Übereinstimmungsraten von teils nur 20% erreicht [6–8].
Obwohl die KI einen gewaltigen Schatz an Informationen zur Verfügung hat, gelingt es bislang nicht zuverlässig, klinisch relevante Empfehlungen zu erstellen, wie dies hämatologisch-onkologische Experten vermögen. Zudem ist ein enormer Zeit- und Kostenaufwand erforderlich, um diese Systeme mit Test-Datensätzen so zu trainieren, dass das System die gleichen Antworten wie ein menschlicher Spezialist geben kann.
Dies wird durch die Analogie zum Einsatz von KI-Systemen für das autonome Fahren deutlich: Grundsätzlich sollte jeder Autofahrer mit Führerschein und Erfahrung in der Lage sein, KI-Systeme zu trainieren, damit diese allmählich mit den Anforderungen der vielfältigen Situationen im Straßenverkehr zurechtkommen. Einen „Führerschein“ für die Onkologie besitzen nur erfahrene onkologische Fachärzte. Man kann sich daher vorstellen, wieviel wertvolle Expertise aus der Routineversorgung abgezogen werden müsste, um die KI-Systeme ausreichend gut zu trainieren. So wurde geschätzt, dass die Therapieempfehlung eines KI-basierten Systems bis zu 1.000 US-Dollar pro Patient kosten könnte – und das, ohne die Implementierungskosten für die Infrastruktur, Rechnersysteme und Personalmittel überhaupt einzuberechnen [9].
Die KI mag eines Tages einen wichtigen Beitrag zur Präzisionsmedizin leisten, aber aktuell steckt das Verfahren noch in den Kinderschuhen, wenn es darum geht, zuverlässige Informationen für die Patientenversorgung bereitzustellen.