„Dieses Projekt wird das Verständnis der aktuellen hämatologischen Diagnostik erweitern“

Interview mit Prof. Dr. Dr. Torsten Haferlach

Die molekularbiologische Diagnostik ist in allen Gebieten der Onkologie auf dem Vormarsch und führt zu einer starken diagnostischen Aufspaltung einzelner Krankheitsbilder in immer kleinere Einheiten, die sich bezüglich ihrer Prognose, vor allem aber auch bezüglich der optimalen Therapie unterscheiden. Nirgendwo zeigt sich diese Entwicklung so stark wie in der Hämatologie, wohl weil hier auch das Untersuchungsmaterial am ein­fachsten zu gewinnen ist. Darüber, wohin diese Entwicklung in der nächsten Zukunft führen wird, sprachen wir mit Prof. Dr. Dr. Torsten Haferlach, Hämatologe und Leiter eines großen Diagnostiklabors für Leukämien und Lymphome in München.

Wie sieht die Diagnostik für Leukämien und Lymphome derzeit aus?

Haferlach: Die Diagnostik der Leukämien und Lymphome aus peripherem Blut und Knochenmark hat sich in den letzten 15 Jahren deutlich verändert. Wir setzen dabei zwar weiter auf die phänotypischen Methoden der Zytomorphologie und Zytochemie, die durch klassische Chromosomenanalyse und Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH) sowie durch die Immunphänotypisierung ergänzt werden. Immer wichtiger werden aber außerdem die molekulargenetischen Analysen, die nicht nur in der Diagnostik, sondern auch für die Prognoseabschätzung zunehmend in den Mittelpunkt rücken.
Dabei sind keineswegs in jedem Fall alle diese Methoden notwendig: Vielmehr ist es am sinnvollsten, auf Basis der vorliegenden klinischen Fragestellung und unter Berücksichtigung der Symptome des Patienten die Verdachtsdiagnose mithilfe der klassischen Zytomorphologie im Mikroskop und häufig auch der Immunphänotypisierung genauer einzugrenzen. Je nach dem Ergebnis dieser Untersuchungen wird dann die Indikation für die komplexeren und letztlich auch teureren Methoden der Zytogenetik und der Molekulargenetik gestellt.

Wie wird bei dieser Stufendiagnostik ein optimaler Einsatz der Ressourcen bei einer für den Patienten akzeptabel kurzen Turn-around-Zeit gewährleistet?

Haferlach: Von allergrößter Bedeutung ist es, ausgehend von der klinischen Fragestellung, die meist durch die Anamnese vorgegeben ist, am Mikroskop in wenigen Stunden eine morphologische Einschätzung zu treffen. Auch eine Immunphänotypisierung kann innerhalb dieser Zeit zu einem Ergebnis führen. Dies gibt uns die Möglichkeit, gegebenenfalls noch am Tag der Einsendung den Einsatz der anderen Methoden zielgerichtet zu steuern beziehungsweise zu optimieren.

Wie lange ist in der modernen Leukämie- und Lymphom-Diagnostik die Befundungszeit vom Eintreffen der Probe bis zum fertigen Befund?

Haferlach: Je nach der erforderlichen Methodik kann das zwischen wenigen Stunden (d. h. ein Ergebnis liegt noch am Tag der Einsendung vor) und sieben bis maximal zehn Tagen in Anspruch nehmen. Bei einigen Notfalluntersuchungen – zum Beispiel bei der Frage nach einer akuten Promyelozyten-Leukämie – kann man mithilfe der Morphologie in Kombination mit FISH und Molekulargenetik innerhalb von drei bis vier Stunden zu einem Ergebnis kommen, was dann weitreichende therapeutische Konsequenzen im Hinblick auf die Therapie hat. Weitere Methoden wie die klassische Chromosomenanalyse benötigen – allein schon wegen der dafür erforderlichen Zellkultur – einige Tage. Auch die Molekulargenetik benötigt wegen der Zellaufarbeitung zwischen 24 Stunden und fünf bis sieben Tagen, wenn die modernsten Diagnostikverfahren mit hoher Spezifität und Sensitivität eingesetzt werden sollen.

Die Diagnostik ist stark im Fluss; was hat sich bezüglich der Anwendung der einzelnen Diagnostikverfahren in den letzten zehn Jahren verändert und was ist hinzugekommen?

Haferlach: Bei der Immunphänotypisierung sind zusätzliche Antikörper zur Detektion bestimmter Zelloberflächen-Antigene oder intrazytoplasmatischer Strukturen hinzugekommen. Das hat dia­gnostische Relevanz: Es führt zur Definition des sogenannten Leukämie-assoziierten Immunphänotyps (LAIP) und ermöglicht die Detektion der minimalen Resterkrankung (MRD). Außerdem werden dadurch Ziele für neue, präzisere Therapien zum Beispiel mit Antikörpern definiert.
Das Wissen in der klassischen Zytogenetik und bezüglich der FISH-Technologie hat sich ebenso erweitert: Speziell für FISH sind in den letzten zehn Jahren viele Gensonden und Genloci neu definiert und entdeckt worden. Diese Analytik gewinnt dadurch an Bedeutung zum Beispiel im Bereich des multiplen Myeloms und der Lymphome, speziell der CLL. FISH hat darüber hinaus den Vorteil, dass es auch an Interphase-Zellkernen ausgeführt werden kann und man deshalb manchmal auf die Kultivierung der Zellen inklusive Chromosomenanalyse mit Metaphasen verzichten kann. Der größte Wandel ist jedoch in der Molekulargenetik zu verzeichnen: Die Zahl der bekannten molekulargenetischen Veränderungen auf Gen-Ebene hat sich in den letzten zehn Jahren fast verzehnfacht.

Worauf gehen diese vielen neuen Erkenntnisse im Bereich der molekulargenetischen Charakterisierung von Leukämien und Lymphomen zurück?

Haferlach: Einen starken Zuwachs hat es durch große klinische Studien, die Erweiterung des Wissens im Bereich der phänotypischen Methoden wie Zytomorphologie und Immunphänotypisierung, aber speziell auch durch neue Techniken zur Analyse molekulargenetischer Veränderungen gegeben. Der wirklich große Durchbruch kam dann durch das Next Generation Sequencing (NGS). Damit ist es seit etwa zehn Jahren möglich, im Hochdurchsatz-Verfahren einzelne Gene zu sequenzieren, diese zu Gen-Panels zu kombinieren und damit in angemessener Zeit, d. h. in wenigen Tagen Informationen zum genetischen Repertoire der Leuk­ämie- beziehungsweise Lymphom-Zellen mit sehr hoher Sensitivität, Spezifität und Genauigkeit zu erhalten.
Gerade NGS hat darüber hinaus aber mit den Möglichkeiten der Sequenzierung ganzer Exome oder gar Genome im Rahmen großer Forschungsprojekte sehr viele neue Erkenntnisse gebracht. Diese werden direkt umgesetzt im Rahmen klinischer Studien oder Forschungsprojekte, um die neu entdeckten molekularen Veränderungen bezüglich ihrer Inzidenz, ihrer diagnostischen und speziell auch ihrer prognostischen Bedeutung zu evaluieren. Solche Arbeiten bilden dann auch sehr rasch eine Grundlage für die Entwicklung neuer, zielgerichteter Medikamente im Rahmen der sogenannten Präzisionsmedizin. So vergehen heute von der Entdeckung einer neuen molekularen Struktur bis hin zur ersten Phase-I- und Phase-II-Studien zum Teil nicht mehr als fünf Jahre, wenn die Erstbeschreiber der jeweiligen Mutationen und die darauf aufbauende Pharmaindustrie Hand in Hand arbeiten.

Wie wird NGS im Rahmen Ihres Labors praktisch durchgeführt?

Haferlach: Wir haben diese Methode und die damals vorhandenen Geräte schon vor neun Jahren im Rahmen der Routine parallel zum Goldstandard der Sanger-Sequenzierung geprüft und nach den ISO-Normen EN 15189 für die Routinedia­gnostik verwendet. Seit Neuestem sind die Leistungen auch – egal ob mit Sanger oder NGS sequenziert – im Rahmen des EBM abrechenbar. Vorteil ist dabei, dass man mithilfe von Automatisierung viele dieser Analysen bündeln kann. Im Hochdurchsatz-Verfahren mittels verschiedener Automatisierungslösungen können dann im NGS-Gerät eine Vielzahl von Patienten, auch mit unterschiedlichen Fragestellungen, im gleichen Lauf analysiert werden.

Das klingt relativ einfach in der Umsetzung, wo liegen die Schwierigkeiten?

Haferlach: Probleme bereitet heute weniger die Implementierung solcher Assays und Geräte in einem molekularbiologisch erfahrenen Labor als vielmehr die Menge der Daten und speziell deren Auswertung in einer Weise, dass man als Ergebnis einen klinisch validen Befund erhält. Wir arbeiten ja in einem Labor wie dem unseren nicht in einer reinen Forschungsstruktur, sondern wir erbringen diagnostische Leistungen, die die Diagnose, Prognoseeinschätzung und Therapieentscheidung des einzelnen Patienten bestimmen. Der Befund muss dann auch noch für den einsendenden Arzt so verständlich sein, dass er ihn auch dem Patienten erklären kann. Die Daten, die das Gerät auswirft, sind dafür nicht ohne weiteres geeignet, vielmehr muss man durch einen bisher noch erheblichen Aufwand an Bioinformatik und molekularbiologischem Wissen jeden einzelnen Befund sowohl technisch als auch medizinisch bewerten und validieren. Dies ist auch deshalb notwendig, weil viele Varianten im Genom lediglich Polymorphismen darstellen und zwar als Veränderung vom Gerät registriert werden, aber keine pathologische Relevanz für den Patienten und seine Erkrankung haben. Hier gibt es Unterstützung in Form von internationalen Datenbanken, aber die Einträge sind zum Teil widersprüchlich oder liegen noch nicht in ausreichendem Maße vor. Die größte Herausforderung zurzeit ist also, diese Daten medizinisch korrekt zu interpretieren und für den einsendenden Arzt und seinen Patienten aufzubereiten.

Ist das schon das Ende der Entwicklung?

Haferlach: Nein, diese Entwicklung geht in einer atemberaubenden Geschwindigkeit weiter. Im Moment befinden sich viele Methoden an der Grenze zwischen Forschungsapplikation und Routineanwendung. Sogar die Sequenzierung ganzer Exome oder gar des kompletten Genoms für die Diagnostik steht zur Diskussion. Wir haben deshalb ein rein wissenschaftliches Projekt aufgesetzt, mit dem wir in den nächsten zwölf Monaten im Rahmen eines Forschungsprojektes zusammen mit der Firma Illumina das Gesamt-Genom von insgesamt 5.000 Patienten sequenzieren und uns darüber hinaus auch die gesamte RNA ansehen werden.
Dieses Projekt wird mit Sicherheit das Verständnis der aktuellen Diagnostik und Klassifikation nach WHO erweitern und zu neuen Erkenntnissen führen. Die Daten werden dabei mithilfe der zurzeit angewendeten bioinformatischen Methoden, darüber hinaus aber – durch eine Kooperation mit IBM Watson – auch mittels neuronaler Netzwerke, Maschinenlernen und künstlicher Intelligenz ausgewertet werden. Die Patientendaten bleiben dabei ausschließlich in unserer Verfügungsgewalt, und wir stellen uns vor, dass wir dadurch in den nächsten Jahren nicht nur ein noch tieferes Verständnis der Pathophysiologie von Leukämien und Lymphomen erreichen, sondern auch besser zur Prognose und insbesondere zur Therapiewahl beraten können. Die heutigen Möglichkeiten der NGS-Geräte und der weltweiten Bioinformatik-Datenbanken – Stichwort Big Data – machen ja ein solches Projekt erst möglich, und dessen Ziel ist es, Geräte, Software und die Diagnostiker in einem bestmöglichen Szenario für den einzelnen Arzt und seinen Patienten zusammenarbeiten zu lassen.


Interview: Josef Gulden

 Prof. Dr. Dr. Torsten Haferlach