Chronische myeloische Leukämie: therapiefreie Remission – ein erfolgreiches Konzept

ASH 2016

Die chronische myeloische Leukämie (CML) ist eine Musterkrankheit – zumindest in der Hämatologie: Sie konnte als erste maligne Erkrankung mit den neu entwickelten Kinaseinhibitoren so erfolgreich behandelt werden, dass sie auch die erste zu sein scheint, bei der man wohl in naher Zukunft bei ausgewählten Patienten mit ausreichend tiefer Remission ein Absetzen der Therapie wird empfehlen können. Konsolidierende Daten aus verschiedenen einschlägigen Studien wurden beim ASH-Kongress Anfang Dezember 2016 in San Diego vorgestellt.

Die therapiefreie Remission ist derzeit das zentrale Thema bei der chronischen myeloischen Leukämie. Ausgehend von der französischen STIM-Studie haben sich in den letzten Jahren eine Reihe von sorgfältig geplanten Untersuchungen damit beschäftigt, unter welchen Umständen man die TKI-Behandlung gefahrlos absetzen kann, wie lange eine Remission danach anhält und ob man Patienten, die ein Rezidiv erleiden, problemlos wieder in eine Remission führen kann. Eine der größten dieser Untersuchungen ist die EURO-SKI-Studie: Eingeschlossen wurden zwischen Juni 2012 und Dezember 2014 insgesamt 821 Patienten mit CML in der chronischen Phase, die unter einem der für die Erstlinientherapie zugelassenen TKI (Imatinib, Nilotinib oder Dasatinib) für mindestens ein Jahr in einer tiefen molekularen Remission gewesen waren (mindestens MR4, d. h. BCR-ABL < 0,01% nach der Internationalen Skala [IS]). Diese Patienten konnten die Therapie absetzen und wurden hinsichtlich ihrer BCR-ABL-Titer engmaschig kontrolliert. Sobald im Verlauf eine gute molekulare Remission (MMR) verloren ging, d. h. die BCR-ABL-Konzentration auf über 0,1% IS anstieg, wurde mit der TKI-Behandlung wieder begonnen.
Wie Francois-Xavier Mahon, Bordeaux, beim ASH-Kongress in San Diego berichtete, ist ein solches molekulares Rezidiv bei bisher 348 Patienten eingetreten, fünf weitere verstarben in Remission [1]. Die molekulare rezidivfreie Überlebensrate betrug sechs Monate nach dem Absetzen der Therapie bei insgesamt 750 auswertbaren Patienten 62%, nach 12 Monaten 56% und nach 24 Monaten 52%. Von den Patienten, die ein molekulares Rezidiv erlitten, haben zum Zeitpunkt der Auswertung die meisten unter erneuter TKI-Therapie wieder eine tiefe molekulare Remission erreicht, so Mahon; insbesondere erlebte keiner eine Progression zu stärker fortgeschrittenen Stadien.
Ein Prognosemodell aus den Daten von 448 ursprünglich mit Imatinib behandelten Patienten ergab, dass lediglich die Dauer der Imatinib-Behandlung und die Dauer der MR4 vor dem Absetzen signifikant mit der Wahrscheinlichkeit einer therapiefreien Remission nach sechs Monaten assoziiert waren (p < 0,001). Jedes Jahr der zusätzlichen Behandlung erhöht diese Wahrscheinlichkeit um 16% (Odds Ratio 1,16); für eine Dauer der Imatinib-Therapie von 5,8 Jahren oder weniger betrug die therapiefreie Remissionsrate nach sechs Monaten 42,6%, bei mehr als 5,8-jähriger Behandlung lag sie bei 65,5%. Bei der MR4-Dauer errechnete sich ein Cut-off-Wert von 3,1 Jahren: Patienten, die länger in einer solchen tiefen Remission gewesen waren, waren nach sechs Monaten noch zu 62% in einer MMR, diejenigen mit kürzerer Dauer nur zu 44%.
Neben dem Wohlbefinden des Patienten, das ohne täglich einzunehmende Tabletten sicherlich größer ist, hat der Ansatz der therapiefreien Remission natürlich auch einen wichtigen finanziellen Aspekt: Eine sorgfältige pharmakoökonomische Studie steht noch aus, so Mahon, aber eine Überschlagsrechnung mit den Daten von 596 Patienten aus der EURO-SKI-Studie, in der die Preise für Imatinib in den elf beteiligten europäischen Ländern zugrunde gelegt wurden, ergibt in den ersten zwei Jahren nach Absetzen der Behandlung geschätzte Kosteneinsparungen von etwa 22 Millionen Euro.
Manche Patienten haben kein gutes Gefühl, wenn sie die Therapie plötzlich ganz beenden – im vollen Wissen darum, dass die Leukämie noch nicht komplett eradiziert ist. In der britischen DESTINY-Studie wurde deshalb eine Strategie des stufenweisen Ausstiegs getestet [2]: 174 Patienten, die nach mindestens dreijähriger Therapie mit Imatinib, Nilotinib oder Dasatinib mindestens eine MMR, also eine MR3 (d. h. BCR-ABL < 0,1% IS) erzielt hatten, konnten in den ersten zwölf Monaten der Studie zunächst die Dosierung ihres Medikaments halbieren, danach wurde die Behandlung ganz abgesetzt – sofern nicht inzwischen die MMR verloren gegangen war.
Das war nur bei insgesamt 6,9% der Patienten der Fall, so Richard Clark, Liverpool, und das Risiko dafür hing von der Tiefe der vorangegangenen molekularen Remission ab: Patienten die zu Beginn tatsächlich nur eine MR3 gehabt hatten, waren nach einem Jahr zu 18,4% rezidiviert, und zwar nach median 4,4 Monaten, während es bei denen mit mindestens einer MR4 nur 2,4% waren, die nach median 8,7 Monaten einen Rückfall erlebt hatten.
Innerhalb der ersten drei Monate nach Halbierung der Medikamenten-Dosis war eine signifikante Abnahme von Nebenwirkungen zu verzeichnen, vor allem von Lethargie, Diarrhö, Hautausschlägen, Nausea, periorbitalen Ödemen und Haarproblemen, allerdings berichteten 21% der Patienten über neu aufgetretene, aber leichte und transiente muskuloskelettale Symptome.
Die Belege dafür, dass das Absetzen der CML-Therapie bei entsprechend tiefer molekularer Remission gefahrlos möglich ist, verdichten sich immer mehr. Mahon erwartet daher, dass Empfehlungen dazu demnächst auch Einzug in die betreffenden Leitlinien halten werden.

Zweiter Absetzversuch ebenfalls sicher möglich?

Was passiert mit Patienten, die nach dem Absetzen eines TKI ein molekulares Rezidiv erlitten und daraufhin die Therapie wieder aufgenommen haben? Die französischen Kollegen, die die Entwicklung mit der therapiefreien Remission ins Rollen gebracht haben und auf die längste Erfahrung mit rezidivierten Patienten zurückblicken, legen nun eine Studie vor, in der solche Patienten unter Therapie mit einem TKI wieder eine tiefe molekulare Remission erzielte hatten, sodass bei ihnen das Medikament nach median 31 Monaten erneut abgesetzt werden konnte [3]. 85% der 69 Patienten hatten zu diesem Zeitpunkt kein nachweisbares BCR-ABL mehr im Blut.
25 der Patienten sind laut Laurence Legros, Nizza, nach median 34 Monaten weiterhin therapiefrei in Remission. Die Mehrzahl der Rezidive trat wie beim ersten Absetzversuch innerhalb der ersten sechs Monate (median fünf Monate) auf. Interessanterweise war nur die Zeitdauer der nicht detektierbaren BCR-ABL-Titer vor dem ersten, nicht aber vor dem zweiten Absetzen signifikant mit dem erneuten Rezidivrisiko assoziiert (p = 0,048). Von den 44 Patienten, die die Behandlung mit einem TKI wieder aufnahmen, erreichten bisher 29 binnen median sieben Monaten wieder einen BCR-ABL-Wert unterhalb der Nachweisgrenze (d. h. < 0,0032% IS entsprechend einer MR4,5).
Ein zweiter Absetzversuch, so Legros, kann also bei entsprechender tiefer Remission sicher vorgenommen werden und ermöglicht noch einmal 40% der Patienten, bei denen der erste Versuch nicht geklappt hat, eine therapiefreie Phase von mindestens zwei Jahren, wahrscheinlich aber sehr viel länger.

Haben Gründe zum TKI-Wechsel Auswirkungen auf die TFR-Phase?

Patienten, die mit Imatinib nicht in eine tiefe molekulare Remission kommen, können dieses Ziel häufig durch den Umstieg auf einen Zweitgenerations-TKI (Nilotinib oder Dasatinib) erreichen. In der ENESTop-Studie beispielsweise geschah das bei 126 von 163 Patienten nach dem Wechsel von Imatinib auf Nilotinib. In einer retrospektiven Subgruppenanalyse wurde untersucht, ob unterschiedliche Gründe für diesen Wechsel den Verlauf nach dem Absetzen unterschiedlich beeinflussen [4]. Von 125 Patienten, die in die Absetzphase eintraten, so Timothy Hughes, Adelaide, hatten 51 (40,8%) den Wechsel wegen einer Intoleranz gegenüber Imatinib vollzogen, 30 (24%) aufgrund einer Resistenz und 44 (35,2%) auf Vorschlag des behandelnden Arztes. Nach 48 Wochen zeigte sich kein Unterschied zwischen diesen drei Subgruppen, was die Aufrechterhaltung der therapiefreien Remission anging: Eine solche wurde für 58,8%, 53,3% bzw. 61,4% der Patienten in diesen drei Gruppen registriert. Ein Verlust der molekularen Remission trat auch hier in allen drei Gruppen überwiegend innerhalb der ersten 24 Wochen nach dem Absetzen der Behandlung auf.

Faktoren, die die Prognose in der Blastenkrise beeinflussen

Die Einführung von TKI hat die Prognose der CML von Grund auf verbessert: Die Lebenserwartung unterscheidet sich heute kaum mehr von der der gleichaltrigen Normalbevölkerung – sofern ein Patient nicht gegen alle Medikamente resistent wird und eine Progression zeigt oder schon gleich in einer Blastenkrise dia­gnostiziert wird. Wovon der Verlauf und die Prognose bei diesen wenigen Patienten abhängt, wollten die Kollegen am M. D. Andersson Cancer Center (MDACC) in Houston wissen. Dazu sammelten sie die Daten von 498 Patienten mit Blastenkrise, die zwischen 1997 und 2015 in ihrem Zentrum behandelt worden waren und zu Beginn im Median 52 Jahre alt gewesen waren [5]. 302 von ihnen waren im MDACC bereits mit Blastenkrise vorgestellt worden, und in 72 dieser Fälle war diese schon bei Dia­gnose vorhanden gewesen. Weitere 84 Patienten hatten sich in der akzelerierten Phase vorgestellt und waren später progredient gewesen, und bei den übrigen 112 hatte die Progression von einer chronischen Phase ihren Ausgang genommen.
Die Überlebenschancen von Patienten in Blastenkrise sind insgesamt schlecht, unterscheiden sich aber doch in Abhängigkeit von einer Reihe von Faktoren, so Preetesh Jain, Houston: Als prognostisch relevant für ein kürzeres Gesamtüberleben erwiesen sich in einer multivariaten Analyse vor allem vier Faktoren, nämlich ein Alter von über 55 Jahren (Hazard Ratio 1,73; p < 0,001), eine vorangegangene Behandlung mit TKI (HR 1,53; p = 0,02), Laktatdehydrogenase-Spiegel von 888 U/l oder mehr (HR 1,56; p = 0,002) und ein myeloider im Gegensatz zu einem lymphoiden Phänotyp (HR 1,67; p < 0,001).

Neue Option bei Versagen von Tyrosinkinaseinhibitoren

Bei der CML ist die therapiefreie Remission derzeit das große Thema, und man vergisst darüber leicht, dass das derzeit nur für eine Minderheit der Patienten eine Option ist: Wenn ungefähr die Hälfte der CML-Patienten unter einem BCR-ABL-TKI eine tiefe molekulare Remission und damit die Voraussetzungen für ein Absetzen der Therapie erreicht und wenn von diesen Patienten wiederum nur etwas mehr als die Hälfte dauerhaft ohne Behandlung in einer solchen Remission bleibt, dann ist das unter dem Strich derzeit ungefähr ein Viertel der Patienten. Darüber hinaus kommt es bekanntlich auch bei denen, die mit TKI in sehr tiefe molekulare Remissionen kommen oder bei denen die Erkrankung gar nicht mehr nachweisbar ist, nicht zu einer Eradikation der leukämischen Stammzellen im Knochenmark. Aus diesen Gründen verwundert es nicht, dass an neuen Klassen von Medikamenten mit anderen Wirkmechanismen gearbeitet wird. Ein Beispiel dafür ist ABL001, der Prototyp einer Substanzklasse, die ebenfalls die BCR-ABL-Kinase hemmt, aber nicht durch kompetitive Verdrängung von ATP aus seiner Bindungstasche, sondern durch Bindung an eine Stelle, an der im normalen Protein der autoregulatorische N-Terminus von ABL1 bindet, der aber bei der Fusion mit BCR verlorengegangen ist. Das Ziel bei der Entwicklung der Substanz war, auch mutierte und gegen TKI resistente Varianten von BCR-ABL zu hemmen. In präklinischen Versuchen konnte ABL001 in Kombination mit TKI leu­k­ämische Vorläuferzellen eliminieren und das Risiko für ein Auftauchen resistenter Klone reduzieren.
In einer weltweit durchgeführten Phase-I-Studie wurden Patienten mit CML in der chronischen oder akzelerierten Phase und auch in der Blastenkrise eingeschlossen, die auf mindestens zwei vorhergehende TKI nicht mehr angesprochen oder sie nicht vertragen hatten, sowie Patienten mit Philadelphia-Chromosom-positiver ALL, bei denen mindestens ein TKI versagt hatte [6]. Insgesamt 101 Patienten, die meisten davon mit CML, sind bisher mit ABL001 entweder in zweimal oder in einmal täglicher Dosierung behandelt worden; lediglich neun davon haben bis dato zusätzlich einen TKI erhalten – in dieser Subgruppe läuft noch die Dosis­eskalations-Phase für ABL001. Der Inhibitor war insgesamt gut verträglich, es traten überwiegend Grad-1/2-Nebenwirkungen auf, an höhergradigen Toxizitäten fielen vor allem Lipase-Erhöhungen (8%), Thrombozytopenien (7%), Anämien (5%) und Neutropenien (4%) auf.
Bei insgesamt 55 auswertbaren Patienten, so Hughes, waren nach zwölf Monaten 55,1% in einer guten molekularen Remission. Die Aktivität von ABL001 war bei verschiedenen TKI-resistenten Mutationen zu sehen, darunter auch bei Patienten mit T315I-Mutation. Allerdings zeigt sich das Problem der Mutationsentwicklung auch mit Blick auf den neuen Inhibitor: Bei bisher einem von sechs daraufhin untersuchten Patienten mit Rezidiv nach ABL001-Behandlung fand sich eine Mutation an der Bindungsstelle für den Inhibitor im BCR-ABL-Protein.
Bislang, so Hughes, erweist sich ABL001 bei diesen stark vorbehandelten Patienten als gut verträglich und zeigt beachtliche und andauernde Wirkung. Für Patienten in der chronischen Phase der CML wurden 40 mg zweimal täglich als Dosis für weitere Untersuchungen definiert. In dieser Studie geht die Rekrutierung von Patienten weiter, insbesondere für die Kombinationstherapie mit TKI und von Patienten mit T315I-Mutationen sowie mit Ph-positiver ALL.



Myeloproliferative Neoplasien: neuer JAK2-Inhibitor wirksam

Der JAK1/2-Inhibitor Ruxolitinib ist heute die Standardtherapie für Patienten mit primärer oder sekundärer Myelofibrose, die eine Splenomegalie oder andere belastende Symptome aufweisen. In San Diego wurden Phase-III-Daten für Pacritinib vorgestellt, einen neuen Inhibitor, der spezifisch für JAK2 ist und außerdem eine Reihe weiterer Kinasen hemmt (FLT3, IRAK1 und CSF1R). In der PERSIST-1-Studie hatte Pacritinib Milzvolumen und Symptome bei Patienten mit Myelofibrose stärker reduziert als Vergleichstherapien, unter denen kein JAK2-Inhibitor vertreten sein durfte. Außerdem war die Thrombozytenzahl kein Einschlusskriterium gewesen. In die PERSIST-2-Studie, die John Mascarenhas, New York, beim ASH-Kongress vorstellte, wurden nur Patienten mit einer prognostisch ungünstigen Thrombozytopenie (≤ 100.000/µl) aufgenommen [7]. Sie konnten außerdem vorher JAK2-Inhibitoren erhalten haben, und unter den Kontrolltherapien (Best Available Therapy) war auch der JAK1/2-Hemmer Ruxolitinib erlaubt. Pacritinib wurde randomisiert entweder mit zweimal täglich 200 mg oder einmal täglich 400 mg gegeben.
Unter den insgesamt 311 Patienten zeigte sich Pacritinib der Kontrollbehandlung hinsichtlich der Reduktion des Milzvolumens überlegen, aber die Pharmakokinetik spielt offenbar eine Rolle: Die zweimal tägliche war wirksamer als die einmal tägliche Gabe – bezüglich sowohl Reduktion von Milzvolumen als auch Symptomscore. Beim Gesamtüberleben lässt sich ein Vorteil der zweimal täglichen Pacritinib-Gabe erkennen, der allerdings bislang nicht signifikant ist.
Die häufigsten Nebenwirkungen unter dem neuen Inhibitor waren gastrointestinaler und hämatologischer Art, aber diese traten unter der zweimal täglichen Dosierung seltener auf als unter der einmaligen Gabe. Bemerkenswert, so Mascarenhas, war ein Anteil von 25% Anämien in der PERSIST-1-Studie, die unter Ruxolitinib nicht gesehen werden und die möglicherweise auf die zusätzlichen durch Pacritinib gehemmten Kinasen zurückgehen.


Literatur
1. Mahon FX et al. ASH 2016, Abstract #787.
2. Clark RE et al. ASH 2016, Abstract #938.
3. Pagliardini T et al. ASH 2016, Abstract #788.
4. Hughes TP et al. ASH 2016, Abstract #792.
5. Jain P et al. ASH 2016, Abstract #1220.
6. Hughes TP et al. ASH 2016, Abstract #625.
7. Mascarenhas J et al. ASH 2016, Abstract #LBA-5.

Josef Gulden