Fortschritte in der Onkologie – nicht nur eine Frage neuer Medikamente

Editorial

Wie bereits Anfang des Jahres angekündigt, soll das Heft 4 von Trillium Krebsmedizin künftig jedes Jahr den großen onkologischen Sommerkongressen gewidmet sein, d. h. vor allem den Jahrestagungen der American Society of Clinical Oncology (ASCO) in Chicago und der European Hematology Association (EHA) in Wien, in diesem Jahr aber auch der International Conference on Malignant Lymphoma (ICML), die im zweijährigen Turnus in Lugano stattfindet.
Eines der Generalthemen, das den ASCO-Kongress jetzt bereits zum wiederholten Mal beherrscht hat, ist die Therapie mit den neuen Checkpoint-Inhibitoren, also Antikörpern, die über die Blockade von Immun-Checkpoints die T-Lymphozyten aktivieren, Tumorzellen tatsächlich, wie es ihre Aufgabe ist, als fremd zu erkennen und zu eliminieren. Dieses Mal wurden in der Plenarsitzung die ersten Phase-III-Daten zur Kombination verschiedener Checkpoint-Inhibitoren vorgestellt – wie zu erwarten beim Melanom, das bei diesen Therapien vorangeht. Die kombinierte Hemmung verschiedener Checkpoints steigert tatsächlich die Wirkung noch einmal ([1], s. a. den Beitrag zu Hauttumoren S. 214).
Dass es aber für Fortschritte in der Onkologie nicht immer neue Medikamente braucht, wurde ebenfalls in der Plenarsitzung mehrfach deutlich:
Bei frühen Plattenepithelkarzinomen des Mundraums wurde bisher meist routinemäßig eine „Neck dissection“ vorgenommen – aus Sorge vor den Konsequenzen einer nodalen Metastasierung. Wer einmal eine solche Operation gesehen hat, kann ermessen, was sie für den Patienten bedeutet und dass man sie gerne vermeiden würde. Eine Phase-III-Studie aus Indien stellte in einem randomisierten Design die Frage, ob es nicht ausreichen würde, nach der primären Operation den Patienten nur zu beobachten und diesen Eingriff nur im Falle von Beschwerden durchzuführen [2]. Das Ergebnis war eindeutig: Nach drei Jahren war die Überlebensrate (der primäre Endpunkt) bei den sofort operierten Patienten um absolut 12,5% höher als im Arm mit der „Watch & Wait“-Strategie; die krankheitsfreie Überlebensrate war sogar um fast ein Viertel höher und die Rezidivrate um mehr als die Hälfte reduziert. Von acht Patienten überlebt also einer mehr, wenn sie sich der sofortigen „Neck dis­section“ unterziehen und bei zweien von ihnen wird dadurch ein Rezidiv verhindert, sodass dieses Vorgehen künftig den Evidenz-basierten Standard in der HNO-Chirurgie darstellen wird.
Weniger Eingriffe könnte es hingegen künftig bei Patienten gegeben, die zwischen einer und drei Hirnmetastasen eines anderswo lokalisierten Tumors aufweisen: Diese können, wenn sie nicht zu groß sind, stereotaktisch bestrahlt werden, doch war bisher unklar, ob die Patienten insgesamt von einer zusätzlichen Ganzhirnbestrahlung profitieren – auch wenn sie nachweislich die Tumorkontrolle im Hirn verbessert. Eine nordamerikanische Phase-III-Studie konnte das zwar bestätigen, fand aber zugleich, dass sich das Gesamtüberleben dadurch nicht verlängern lässt, dass sich hingegen die kognitive Funktion in manchen Bereichen hochsignifikant verschlechtert [3]. Hier wird man sich also künftig im Regelfall auf die radiochirurgische Behandlung beschränken und auf die Ganzhirnbestrahlung verzichten.
Hämatologie: Fortschritte vor allem bei Lymphomen und Myelom
In der Hämatologie standen in diesem Sommer vor allem die Lymphome und das Multiple Myelom im Fokus der Aufmerksamkeit. Die Entwicklung bei den Lymphomen, die in dem Beitrag ab Seite 240 beleuchtet wird, ist sehr breit und ungebremst, (was am Rande auch dadurch illustriert wird, dass vor dem Kongress in Lugano wegen überbordender Teilnehmerzahlen ein kurzfristiger Stopp der Anmeldungen verhängt werden musste). Neben neuen Antikörpern und Kinaseinhibitoren kommt auch hier die Erprobung der Checkpoint-Inhibitoren in Fahrt; insbesondere beim Hodg­kin-Lymphom gibt es bereits schöne Ergebnisse. Bei diesem Tumor macht übrigens auch die Individualisierung der Therapie, die ja eines der wichtigen Schlagwörter in der Onkologie in den letzten Jahren ist, gute Fortschritte – indem zum Beispiel frühe Kontrollen mit der Positronenemissionstomografie helfen, Patienten zu identifizieren, bei denen entweder eine Eskalation der Therapie erforderlich ist oder bei denen man sich auf eine mildere und damit auch wesentlich besser verträgliche Behandlung beschränken kann.
Beim multiplen Myelom gab es schon in den letzten zehn Jahren schöne Fortschritte durch die Einführung von Proteasominhibitoren und Immunmodulatoren, die jetzt mit Zweitgenerations-Substanzen vor der Türe stehen
(s. Beitrag ab Seite 250). Die monoklonalen Antikörper kommen hier nun auch ins Spiel – etwas spät angesichts der Tatsache, dass Myelom-Zellen mit einer ganzen Reihe vielversprechender Oberflächenantigene aufwarten können. Derzeit aber haben gleich zwei interessante Antikörper bei dieser Indikation von der US-amerikanischen Zulassungsbehörde eine „Breakthrough Therapy Designa­tion“ erhalten, die mit einer Beschleunigung des Zulassungsverfahrens einhergeht; für einen von ihnen hat auch die EMA soeben eine Beschleunigung des Verfahrens angekündigt. Trillium Krebsmedizin wird im nächsten Jahr ein Schwerpunkt-Heft zur aktuellen Situation beim Multiplen Myelom bringen.
Kosten in der Onkologie – ein ungeliebtes, aber drängendes Thema
Ein Problem, über das Onkologen nicht so gerne nachdenken, das sich aber auf Dauer nicht wird verdrängen lassen, wurde von der ASCO ebenfalls sehr prominent im Rahmen der Plenarsitzung adressiert: die steigenden Kosten der Therapie. Die Frage ist, was ein Gesundheitssystem – und das heißt auch: eine Gesellschaft – sich in medizinischer Hinsicht leisten kann. Dass die ASCO das Thema neben den besten Abstracts des Jahres auf die Agenda ihrer Plenarsitzung gesetzt hat, zeigt, für wie virulent es dort gehalten wird.
Leonard Saltz, Onkologe am Memorial Sloan Kettering Cancer Center in New York und einer der führenden klinischen Darmkrebs-Forscher weltweit, rechnete vor, dass die Einführungspreise für neu zugelassene Krebsmedikamente zum Zeitpunkt der jeweiligen Zulassung in den vergangenen etwa 35 Jahren exponentiell gestiegen sind. Gesundheitsökonomische Auswertungen ergäben beispielsweise, dass der inflationsbereinigte Preis für ein zusätzliches Lebensjahr um rund 8.500 US-Dollar pro Jahr steigt und 2014 bei etwa 224.000 Dollar lag [4]. Jahres-Therapiekosten von einer Million Dollar seien bei einigen der neueren Medikamente keine Fantasievorstellung mehr, und man muss kein Volkswirt sein, um vorherzusehen, dass kein Gesundheitssystem der Welt das auf längere Frist wird leisten können. Bereits gegenwärtig sollen die Kosten für Krankenversicherung plus Eigenbeteiligung in einem amerikanischen Mittelklasse-Haushalt die Hälfte des Jahreseinkommens ausmachen [5].
Als einen Ansatz empfahl Saltz, zu unterscheiden zwischen dem Nutzen einer Therapie, die sich in Ansprechraten, Überlebenszeiten etc. messen lässt, und ihrem „Wert“, in den neben den Nebenwirkungen auch die Kosten (heute häufig ironisch als „finanzielle Toxizität“ bezeichnet) eingehen müssten. Der einzelne Arzt kann dieser Entwicklung entgegenzuwirken versuchen, indem er sorgfältig auswählt und auf Therapien verzichtet, die hohe Kosten verursachen, aber für den jeweiligen Patienten wenig „Wert“ bringen. Um die Diskussion darüber zu stimulieren, hat die ASCO kurz nach der Jahrestagung als erste Näherung eine konzeptionelle Handreichung zur Feststellung dieses „Werts“ veröffentlicht [6]; von der European Society of Medical Oncology (ESMO) gibt es ein ähnliches Papier, in dem eine “Magni­tude of Clinical Benefit Scale” zur Diskussion gestellt wird (MCBS, [7]).
Damit ist das Problem der nachhaltigen Implementierung neuer Therapien in der Onkologie (und nicht nur dort) sicherlich nicht gelöst, aber die großen Fachgesellschaften haben damit zumindest gezeigt, dass sie das Problem erkannt haben und gewillt sind, eine Diskussion anzustoßen, die in den nächsten Jahren mit allen Beteiligten geführt werden muss – mit den Ärzten, der Industrie, den Versicherungsträgern, den Gesetzgebern und nicht zuletzt auch mit den Patienten.


P. S.: Wenn Sie die gastrointestinalen Tumoren und das Mammakarzinom in diesem Heft vermissen sollten: Berichte darüber werden in der nächsten Ausgabe erscheinen und den ASCO-Kongress ebenso wie den 17th World Congress on Gastrointestinal Cancer abdecken, der Anfang Juli in Barcelona stattfand.

 

Literatur
1. Wolchock JD et al. J Clin Oncol 2015; 33 (15S): 3s (ASCO 2015, Abstract #LBA1).
2. D´Cruz A et al. J Clin Oncol 2015; 33 (15S): 4s (ASCO 2015, Abstract #LBA3).
3. Brown PD et al. J Clin Oncol 2015; 33 (15S): 4s (ASCO 2015, Abstract #LBA4).
4. Howard DH et al. J Economic Perspectives 2015; 29: 139-62.
5. Young RA, DeVoe E. Ann Fam Med 2012; 10: 156-62.
6. Schnipper LE et al. J Clin Oncol 2015, Jul 13 [prepub ahead of print, DOI 10.1200/JCO.2015.61.6706].
7. Cherny NI et al. Ann Oncol 2015; 26: 1547-73.

Josef Gulden, Grafrath