Interview mit Prof. Dr. Wolfgang Hiddemann, München

Die akute Promyelozyten-Leukämie (APL) ist eine Sonderform der akuten myeloischen Leukämie (AML), die ursprünglich eine sehr hohe Mortalitätsrate hatte. Die Aufklärung des Pathomechanismus mit Beteiligung des Retinsäure-Rezeptor-Fusionsproteins einerseits und zum anderen die zuerst in China entdeckte und dann durch systematische Analysen nachgewiesene Korrektur dieses funktionellen Defekts durch das Vitamin-A-Derivat all-trans-Retinsäure (ATRA) hat die Erkrankung in hohem Maß behandelbar gemacht. Arsentrioxid ist schließlich für die Therapie im Rezidiv zugelassen, konnte aber in einer deutsch-italienischen Phase-III-Studie auch in der Erstlinie in Kombination mit ATRA bei sämtlichen Patienten eine komplette Remission erzielen. Prof. Wolfgang Hiddemann, Direktor der III. Medizinischen Klinik am Klinikum Großhadern der Universität München und Leiter der deutschen AML Cooperative Group (AMLCG), äußert sich zum therapeutischen Vorgehen in dieser Situation.

Können Sie die Entwicklung der Therapie der APL in den vergangenen Jahren kurz nachzeichnen?

Hiddemann: Früher hatte die APL eine Frühtodesfall-Rate von 50-60%. Ein erster, kleiner Schritt nach vorne war die Einführung von Anthrazyklinen, die langfristig die Prognose besserte, aber kurzfristig an den hohen Blutungskomplikationen nichts änderte. Der Hauptdurchbruch kam tatsächlich mit der Einführung von ATRA. Das kann aber in Monotherapie die Krankheit nicht dauerhaft wirksam unterdrücken, deshalb haben wir in Deutschland in der AMLCG lange Zeit an einem relativ intensiven Protokoll festgehalten und ATRA mit Hochdosis-Cytarabin kombiniert, während in anderen Ländern weniger intensive Schemata, vor allem mit Idarubicin verwendet wurden. Die Frage, welche Chemotherapie wann die richtige ist, ist aber nach wie vor nicht vollständig gelöst, weil man bei der APL zwei große prognostisch unterschiedliche Gruppen trennen muss – Hoch- und Niedrigrisiko-Patienten, in erster Linie festgemacht an der Leukozyten-Zahl. Die Daten, die besagen, dass man mit der Chemotherapie zurückgehen oder vielleicht sogar ganz darauf verzichten kann, sind bisher nur bei Niedrigrisiko-Patienten erhoben worden. Bei der Hochrisiko-APL ist noch die Frage, ob Hochdosis-Cytarabin zumindest in Kombination mit ATRA nicht doch einen Vorteil gegenüber Idarubicin hat.

Eine Besonderheit der APL ist auch, dass sie die einzige AML-Form ist, die man prinzipiell ohne Chemotherapie behandeln und heilen kann. In der Rezidivtherapie ist Arsentrioxid, gegebenenfalls in Kombination mit ATRA, Standard – wie sieht es mit der Erstlinientherapie aus?

Hiddemann: Nach den Daten der im New England Journal of Medicine publizierten deutsch-italienischen Phase-III-Studie ist für Niedrigrisiko-APL die Kombination aus ATRA und Arsentrioxid das, was am besten belegt ist. Statistisch war die Studie von Lo-Coco et al. als Nicht-Unterlegenheitsstudie angelegt, es spricht aber vieles dafür, dass die Kombination aus ATRA und Arsentrioxid sogar überlegen ist, und zwar nicht nur beim ereignisfreien, sondern auch beim Gesamtüberleben. Nur gibt es bedauerlicherweise eine Diskrepanz zwischen dem, was aus unserer Wahrnehmung nach diesen aktuellen Ergebnissen Standard sein sollte und dem, was zugelassen ist: Arsentrioxid ist zur Erstlinientherapie der APL bisher nicht zugelassen. Wenn man es also hier einsetzen will, bedarf das strenggenommen vorher einer Diskussion mit der betreffenden Krankenkasse, ob sie diese Therapie auch übernimmt.

Haben Sie damit persönlich Erfahrungen? Wie sehen die Kassen das?

Hiddemann: Natürlich kennen die Kassen diese Daten auch, und deshalb haben wir mit ihnen keine großen Schwierigkeiten. Und es gibt auch zumindest eine mündliche Aussage des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen, wonach der Einsatz von Arsentrioxid bei Niedrigrisiko-Patienten auch tatsächlich gebilligt wird und es damit keine Probleme gibt.

D.h. aus Ihrer Sicht wäre ATRA plus Arsentrioxid Standard auch in der Erstlinie bei Niedrigrisiko-Patienten, d.h. solchen mit unter 10.000 Leukozyten/ml?

Hiddemann: Richtig! Die Situation ist insofern auch nicht ganz so schwierig, als Arsentrioxid  verkehrsfähig ist: Es ist grundsätzlich zugelassen, nur nicht für diese Indikation in der Erstlinie. Aber das haben wir in der Onkologie in relativ vielen Fällen, dass wir Medikamente auch außerhalb der primären Zulassung einsetzen können, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind, z.B. bei lebensbedrohlichen Erkrankungen, guter Evidenz für eine Wirksamkeit usw. – und bei der APL kann man wirklich gute Gründe dafür anführen, warum man die Kombination mit Arsentrioxid in der Primärtherapie einsetzt.

Was macht man, wenn Patienten nach First-line-Behandlung mit ATRA und Arsentrioxid ein Rezidiv erleiden?

Hiddemann: Dazu gibt es verständlicherweise noch nicht sehr viele Erfahrungen. Viele Patienten bekommen auch heute noch die Kombination aus ATRA und Idarubicin, und die Salvagetherapie ist dann – zulassungsgemäß – Arsentrioxid. Wenn man jetzt ATRA und Arsentrioxid in der Erstlinie gegeben hat und dann ein Rezidiv auftritt, gibt es im Prinzip keine wirkliche Standardtherapie. Es kommt sehr darauf an, wie schnell so ein Rezidiv sich einstellt: Kommt es relativ früh, sagen wir im ersten Jahr, sollte man eine allogene Stammzelltransplantation planen, weil man hier wohl von einer Resistenz ausgehen muss. Außerdem muss man schauen, ob neben der t(15;17)-Translokation noch andere Aberrationen oder Varianten vorliegen – das ist dann relativ häufig der Fall –, die auf diese Kombination nicht gut ansprechen. Kommt das Rezidiv später, kann man auch einen weiteren Therapieversuch mit ATRA/Arsentrioxid machen.

Wie sieht es mit der Wirksamkeit dieser Kombination bei Hochrisiko-Patienten aus? Arsentrioxid gilt als wirksamstes Medikament bei der APL – was spricht dagegen, es auch bei mehr als 10.000 Leukozyten/ml einzusetzen?

Hiddemann: Nichts Grundsätzliches, aber das muss natürlich in Studien untersucht werden. In einer Initiative, die letztlich von Deutschland ausgeht (Prof. Platzbecker in Dresden und Frau Prof. Lengfelder in Mannheim) wollen wir in einer Intergroup mit Beteiligung weiterer europäischer Länder, v.a. der Italiener und der Franzosen, in einem randomisierten Vergleich – ATRA/Arsentrioxid gegen ATRA/Idarubicin – genau diese Frage für Hochrisiko-APL beantworten. Diese APOLLO-Studie wird hoffentlich im nächsten Jahr anlaufen und in sie sollten möglichst viele geeignete Patienten eingeschlossen werden.

Was muss man bei der Behandlung mit ATRA/Arsentrioxid beachten?

Hiddemann: Bei Arsentrioxid kann es Probleme mit der Leber und QT-Zeit-Verlängerungen geben. Darauf muss man achten und gegebenenfalls die Therapie unterbrechen. Und mit ATRA kann es zu einem APL-Differenzierungssyndrom kommen, d.h. zu einem Anstieg der ausdifferenzierten Leukozyten und dadurch zu Mikrozirkulationsstörungen, vor allen Dingen in der Lunge. Wenn man es nicht rechtzeitig erkennt, kann das schon bedrohlich werden. Ansonsten unterbricht man die Behandlung, gibt relativ hoch dosiertes Kortison und bekommt das Problem dann in der Regel ganz gut wieder in den Griff.

Herzlichen Dank für das Gespräch!
Interview:  Josef Gulden