Die aktualisierte S3-Leitlinie umfasst laut Jordan 481 Empfehlungen und Statements. „Das bedeutet, dass die Supportivtherapie viel zu sagen hat und ganz wichtig in der Onkologie ist“, erklärte die Sprecherin der AGSMO. Auch wenn nur sehr wenige Medikamente in der Supportivtherapie zugelassen seien und die Bewertung der Evidenz aufgrund der Studienlage oftmals schwierig sei, habe die Leitlinie vollständig aktualisiert und um die folgenden vier Themen beziehungsweise Themenkomplexe erweitert werden können: autoimmune Erkrankungen als Nebenwirkungen, Kardiotoxizität, zentrale Neurotoxizität und radiogene Nebenwirkungen am Urogenitaltrakt.
Nur ein Erythrozytenkonzentrat bei chemotherapieinduzierter Anämie
Zwar habe es zum Thema der chemotherapieinduzierten Anämie keine grundlegenden Änderungen gegeben – eine konsensbasierte Empfehlung hob Jordan trotzdem hervor, und sie hoffte auf eine Implementierung in der klinischen Praxis. Bei hospitalisierten Patienten mit chronischen Änamien, deren klinischer Zustand und deren Laborparameter überwacht werden, sollte bei der Indikation für eine Transfusion zunächst nur ein Erythrozytenkonzentrat gegeben werden [1]. Es sollten also nicht mehr zwei – wie zuvor – verabreicht werden, mahnte die Ärztin.
Tumortherapieinduzierter febriler Neutropenie vorbeugen
Weiterhin wies Jordan darauf hin, dass nur beim Risiko für eine febrile tumortherapieinduzierte Neutropenie prophylaktisch ein Granulozyten-Kolonie-stimulierender Faktor (G-CSF) gegeben werden sollte. Die Risikoklassifizierung für die febrile Neutropenie wurde hierfür angepasst. Es gibt nun nur noch vier statt fünf Risikoklassen, wobei die G-CSF-Prophylaxe bei einem Risiko für eine febrile Neutropenie von ≥ 20 % (Risikoklasse 1) beziehungsweise von ≥ 10 bis 20 % mit individuellen Risikofaktoren (Risikoklasse 2) indiziert sei (Empfehlungsgrad A, Level of Evidence [LoE] 1) [1]. „Eine G-CSF-Gabe aufgrund des alleinigen Auftretens einer afebrilen Neutropenie nach Tumortherapie soll nicht erfolgen“, lautet die evidenzbasierte Empfehlung (Empfehlungsgrad A, LoE 2) [1].
Eine bedeutende Erweiterung besteht für Erwachsene mit einer akuten myeloischen Leukämie, die eine Induktions- oder Konsolidierungschemotherapie erhalten: Sie können laut Jordan ebenfalls eine prophylaktische G-CSF-Gabe bekommen.
Tumortherapieinduzierte Hauttoxizität
Ein sehr wichtiger Themenbereich der S3-Leitlinie sei daneben die tumortherapieinduzierte Hauttoxizität. Neu ist nach Darstellung Jordans, dass ein topisches Glukokortikoid zur Prophylaxe des akneiformen Exanthems für bis zu 30 Tage erwogen werden kann (Empfehlungsgrad 0, LoE 2). Zudem habe nun auch die Kühlung während der Infusion mit Docetaxel als nichtmedikamentöse Prophylaxe von Nagelveränderungen einen Stellenwert in der Leitlinie (Empfehlungsgrad 0, LoE 2). „Für andere Substanzen liegt hierfür keine Evidenz vor“, erklärte sie. Darüber hinaus könne off-label die Gabe von Omalizumab bei einem therapierefraktären Pruritus unter einer Anti-HER2- oder Checkpoint-Inhibitor-Therapie zusätzlich zu den anderen empfohlenen Maßnahmen erfolgen (Empfehlungsrad 0, LoE 4).
Nausea und Emesis
Zu dem komplexen Thema tumortherapieinduzierte Nausea und Emesis sei die meiste Evidenz vorhanden, meinte Jordan. Während das Leitlinienteam die Einteilung der Risikoklassen für die intravenöse Tumortherapie in hoch, moderat, gering und minimal emetogen beibehielt, passte es die Risikoklassifizierung der oralen Tumortherapie analog den europäischen und internationalen Leitlinien an:
- Beträgt das Emesis-Risiko ≥ 30 %, gilt die orale Substanz als hoch/moderat emetogen.
- Liegt das Emesis-Risiko bei < 30 %, wird der Wirkstoff als gering/minimal emetogen definiert.
Neu ist die Empfehlung, dass vor einer eintägigen hoch emetogenen medikamentösen Tumortherapie wie Cisplatin zusätzlich zur Prophylaxe mit einem 5-HT3-Rezeptorantagonisten, einem NK1-Rezeptorantagonisten und Dexamethason die Gabe von Olanzapin 5 mg (off-label) erfolgen kann (Empfehlungsgrad 0, LoE 1). In der verzögerten Phase (Tag 2 bis 5) solle dann Dexamethason (Tag 2 bis 4) gegeben werden, und gegebenenfalls könne mit Olanzapin (Tag 2 bis 4) kombiniert werden, fasste Jordan zusammen.
Auch bei Carboplatin solle nun in der akuten Phase eine Triple-Kombination (Empfehlungsgrad B, LoE 1) verabreicht werden.
Ein neu erstellter Therapiealgorithmus kann daneben als mögliche Vorgehensweise der antiemetischen Prophylaxe bei mehrtägigen oralen Tumortherapien genutzt werden.
Periphere Neurotoxizität: Taubheitsgefühl nicht behandelbar
Jordan erinnerte außerdem daran, dass die periphere Neurotoxizität eine klinisch wesentliche Nebenwirkung ist. Zur Behandlung der neuropathischen Schmerzen bei chemotherapieinduzierter Polyneuropathie sollte laut Leitlinie Pregabalin angeboten werden (Empfehlungsgrad B, LoE 1). Entscheidend sei in diesem Zusammenhang aber, dass unter neuropathischen Schmerzen alle unangenehmen sensiblen Plussymptome wie Brennen, Ziehen, Drücken, Bohren oder Reißen zu verstehen seien, die infolge einer Schädigung am somatosensiblen Nervensystem entstehen. „Ein Taubheitsgefühl oder schmerzloses Kribbeln gehört nicht dazu und ist medikamentös kaum zu beeinflussen. Das müssen wir uns merken!“, hob die Onkologin hervor.
Zentrale Neurotoxizität
Im neu aufgenommenen Kapitel zur zentralen Neurotoxizität wird zur Beurteilung einer möglichen Ototoxizität bei Personen, die eine cisplatinhaltige Chemotherapie erhalten, vor Start der Therapie und bei Auftreten subjektiver Beschwerden eine Tonaudiometrie mit dem Frequenzspektrum 500 bis 8.000 Hz gefordert (Empfehlungsgrad A, LoE 4) [1]. „Dies ist für die Betroffenen hochrelevant im Sinne des Survivorship Care“, unterstrich Jordan.
Es wurde jedoch keine Prophylaxeempfehlung mit Thiosulfat in die Leitlinie aufgenommen. Das evidenzbasierte Statement hierzu lautet: „Es besteht keine wirksame medikamentöse Prophylaxe der chemotherapieinduzierten Ototoxizität bei Erwachsenen“ (LoE 1) [1].
Tumortherapieinduzierte Diarrhö
In der Behandlung von Durchfällen müsste zukünftig die Ursache mitbedacht werden, denn es gebe zwei Klassen der tumortherapieinduzierten Diarrhö: die chemotherapieinduzierte und die immuntherapieinduzierte Diarrhö – wobei Letztere im Bereich der immunbedingten Nebenwirkungen eine große Rolle spielen würde, führte Jahn aus. In der S3-Leitlinie wird die Routinetestung auf Dihydropyrimidin-Dehydrogenase(DPYD)-Insuffizienz vor einer 5-Fluorouracil-haltigen Therapie empfohlen. Die Apothekerin Dr. Annette Freidank, Fulda, merkte an: „Dies schließt die oralen Arzneimittel Capecitabin und Tegafur mit ein.“
Kardiotoxizität
„Es war uns sehr wichtig, den Bereich der Kardiotoxizität in die S3-Leitlinie aufzunehmen“, berichtete Jahn. Darin seien unter anderem die tumortherapiespezifischen Risikofaktoren sowie die risikoabhängige Diagnostik für die Kardiotoxizität aufgeführt. Anhand der bestehenden kardiovaskulären Erkrankungen, des Alters der erkrankten Person und des geplanten Tumorregimes könne man einen HFA-ICOS-Risikoscore bilden (https://www.cancercalc.com/hfa-icos_cardio_oncology_risk_assessment.php). Anhand dessen könne eine Monitoring-Strategie zusammen mit der Kardiologie vorbereitet werden. „Dabei gilt es, eine krebstherapieassoziierte kardiovaskuläre Kardiotoxizität (CTRCVT) zu vermeiden oder früh zu erkennen“, erklärte Jahn.
Radiogene Nebenwirkungen am Urogenitaltrakt
„Ich glaube, dass wir die Frage nach dem Thema erektile Dysfunktion nach wie vor viel zu selten stellen“, schätzte Jahn ein. So würden laut einer Metaanalyse 24 % der Personen mit Rektumkarzinom nach einer präoperativen Radiochemotherapie sexuelle Funktionsstörungen aufweisen [2]. Berichtet ein Prostatakarzinompatient von einer erektilen Dysfunktion nach Strahlentherapie, sollte ihm laut Leitlinie als Erstlinientherapie ein Phosphodiesterase-5-Inhibitor angeboten werden (Empfehlungsgrad B, LoE 1). Diese und weitere Empfehlungen sind nun im neuen Kapitel „Radiogene Nebenwirkungen am Urogenitaltrakt“ aufgeführt.
Immunvermittelte unerwünschte Effekte durch Checkpointblockade
Ein weiterer wichtiger Bereich, der neu für die S3-Leitlinie zusammengestellt worden ist, umfasst die immunvermittelten Nebenwirkungen (irAE) durch Immuncheckpoint-Inhibitoren. Als besonders hilfreich nannte PD Dr. med. Paul Bröckelmann, Köln, die Auflistung von Untersuchungen, die vor Beginn einer Checkpointblockade durchzuführen seien, um entweder einen Ausgangswert für bestimmte Organfunktionen zu definieren oder bestimmte, vielleicht bisher nicht erkannte Probleme zu identifizieren.
„Außerdem werden Empfehlungen ausgesprochen für Betroffene mit vorbestehenden Immunerkrankungen, die eine Herausforderung in der Praxis darstellen. Das Gleiche gilt für Menschen zum Beispiel nach Stammzell- oder Organtransplantation“, fasste er zusammen. Zu finden seien daneben Empfehlungen für die diagnostische Abklärung von irAE und deren schweregradabhängige Therapie (Abb. 1) sowie Therapieoptionen bei steroidrefraktären irAE (off-label).