110 Jahre – ein Alter, in dem man stolz auf das Erreichte blickt und sich zur Ruhe setzt, um neuen Entwicklungen Platz zu machen oder eher ein Zeitpunkt, um den erworbenen Erfahrungsschatz für eine Fortschreibung der eigenen Erfolgsgeschichte weiterzureichen? Vor dieser Frage steht die Allergen-Immuntherapie (AIT), auch Hyposensibilisierung oder spezifische Immuntherapie genannt, die letztes Jahr ihren 110. Geburtstag feierte. 1911 publizierte Noon die Ergebnisse einer ebenso simplen wie gleichzeitig bahnbrechenden Studie, in der die konjunktivale Reaktion von Gräserpollenallergikern untersucht wurde, nachdem diese repetitive Injektionen eines aus den Pollen hergestellten Extrakts erhalten hatten. Es konnte gezeigt werden, dass dieses Verfahren zu einer signifikanten Abnahme der klinischen Beschwerden und somit zur Ausbildung einer Toleranz führte – das war die offizielle Geburtsstunde der AIT [1].
Allergen-Immuntherapie: Status quo
Nach vielfältigen Modifikationen und überzeugenden Ergebnissen in standardisierten, randomisierten, doppelblind-plazebokontrollierten Studien stellt die AIT heute ein gut etabliertes und weltweit angewandtes Verfahren zur Therapie IgE-vermittelter Allergien dar. Sie wird in unterschiedlichen Formen und Variationen – als subkutan injizierte, sublinguale oder orale Applikation, als natives Allergen oder Allergoid (chemisch modifiziertes Allergen, dessen IgE-bindende B-Zell-epitope maskiert sind [2]), in Kombination mit unterschiedlichen Adjuvantien oder gekoppelt an Depotstoffe eingesetzt. Zu den Anwendungsbereichen zählen die Pollen-, Hausstaubmilben-, Insektengift- oder – wie im Falle der unlängst durch die FDA und EMA zugelassenen ersten oralen AIT für die Erdnussallergie [3] – Nahrungsmittelallergien [4]. Im Vergleich zu anderen, symptomatisch wirksamen Arzneimitteln wie den Antihistaminika und organspezifisch eingesetzten Kortikosteroiden ist die AIT die einzig kausal wirksame Therapieform, die zudem einen (lang) anhaltenden Effekt verspricht. Die klinische Effektivität unterscheidet sich in Abhängigkeit vom Allergen oder dessen Applikation, so liegen diese am höchsten mit zumeist lang andauernder Persistenz für die subkutane AIT der Insektengiftallergie, während die orale Therapie bei Erdnussallergen i. d. R. nur zu einer an die fortgesetzte Einnahme gebundenen Toleranzinduktion führt [5].
Nicht nur bei der Entwicklung der eingesetzten Allergenprodukte und ihrer Anwendungsformen und -bereiche, sondern auch bei der Identifizierung der immunologischen Wirkprinzipien sind umfangreiche Fortschritte erzielt worden. Die meisten Untersuchungen hierzu erfolgten an Pollenallergikern. So war man ursprünglich der Überzeugung, dass durch die wiederholte Gabe des Pollenextrakts neutralisierende Antitoxine induziert werden, basierend auf der Vorstellung, Toxine der Pollen wären Auslöser der allergischen Beschwerden [6]. Die Identifikation der IgE-Antikörper sowie nachfolgend der ihre Synthese anregenden T-Helfer (TH)2-Zellen als entscheidende pathogenetische Faktoren der allergischen Soforttyp-Reaktion bildete die Grundlage für die in klinisch-experimentellen Studien festgestellten Immunmechanismen der AIT. Diese sind durch unterschiedliche zelluläre und humorale Parameter geprägt, deren vielschichtiges und differentielles Zusammenspiel in seiner Relevanz für die Entstehung bzw. Aufrechterhaltung einer Allergentoleranz noch nicht vollständig verstanden und in einzelnen Aspekten auch Gegenstand kontroverser Diskussionen ist [7–9]. Eine relevante Rolle wird hierbei vor allem IL-10 zugeschrieben, das von (auch als regulatorisch bezeichneten) T- und B-Lymphozyten, aber auch von anderen Zellen des Immunsystems sezerniert wird [5, 8, 10, 11], wobei es Hinweise gibt, dass es insbesondere für die Toleranzinduktion bedeutsam ist [6, 7]. Weitere beteiligte Zytokine sind bspw. IL-35 und TGF-β [7]. Eine wichtige Funktion kommt zudem tolerogenen dendritischen Zellen zu, die TH2-Immunantworten inhibieren und zur Differenzierung immunregulatorischer follikulärer und TH-Lymphozyten beitragen [5, 10]. Entscheidende Faktoren einer langfristigen Allergentoleranz sind der Verlust allergenspezifischer TH2-Reaktivität und die Produktion allergenblockierender Antikörper [5, 8, 12, 13]. Diese kann neben IgG- auch IgA-Antiköper beinhalten, die insbesondere im Rahmen einer sublingualen AIT induziert werden [14].
Trotz der enormen Fortschritte in der therapeutischen Anwendung der AIT und dem Verständnis ihrer immunologischen Effekte sieht sich die AIT unterschiedlichen Herausforderungen gegenüber, die es zu bewältigen gilt. Diese beinhalten bspw. ihre – bei bestimmten Allergenen wie Hausstaubmilben, Tierepithelien und Nahrungsmittel – oft nur geringe Effizienz, Effektivität, Sicherheitsaspekte mit erhöhtem Anaphylaxierisiko in Abhängigkeit der behandelten Erkrankung (Asthma) oder der verwendeten Allergene (Nahrungsmittel) und die individuell unterschiedlich lange Persistenz der durch die AIT erzielten Toleranz [15–17]. Hier gilt es durch modifizierte oder aber sogar alternative Verfahren neue Perspektiven zu eröffnen. Im Folgenden sollen einige exemplarisch vorgestellt werden, die zurzeit noch Gegenstand explorativer Studien sind.
Allergen-Immuntherapie: neue Perspektiven
Molekulare oder peptidbasierte Allergen-Immuntherapie: modifizierte Allergenpräparate und personalisierte Medizin
Molekulare und peptidbasierte AIT-Präparate zeichnen sich dadurch aus, dass sie im Gegensatz zum Allergenextrakt nur einzelne Komponenten enthalten, gegen die eine klinisch bedeutsame IgE-Sensibilisierung vorliegt; von besonderem Interesse sind hier die Majorallergene [18]. Sie ermöglichen eine zielgerichtete AIT, deren Einsatz auf Basis des zuvor ermittelten molekularen Sensibilisierungsprofils festgelegt werden kann. Definierte Allergendosen lassen sich applizieren und in Studien auf ihre therapeutische Wirksamkeit überprüfen. Auch ist ein strukturiertes Therapiemonitoring durch Quantifizierung der gegen die einzelnen Komponenten gebildeten blockierenden IgG-Antikörper möglich. Zusätzliche Perspektiven eröffnen sich durch den Einsatz modifizierter Allergenmoleküle, so bspw. in Form von hypoallergenen T- oder auch B-Zellpeptiden mit fehlender IgE-Reaktivität zur Minimierung des Risikos unerwünschter anaphylaktischer Reaktionen im Rahmen der AIT (Abb. 1a).