Zelltherapie und Immunologie bei Fraunhofer in Leipzig

Vorgeschichte und Anfang

Unter den nicht-universitären Forschungsorganisationen in Deutschland betreibt die Fraunhofer-Gesellschaft (FhG) hauptsächlich angewandte Forschung und ist mittlerweile zu Europas größter Forschungsorganisation auf diesem Gebiet herangewachsen.
In den späten neunziger Jahren empfahl die Bundesregierung der hauptsächlich ingenieurtechnisch ausgelegten FhG ein verstärktes Engagement in der Biotechnologie. Die diesbezüglich bereits tätigen Institute wurden im neu gegründeten Verbund Life Sciences zusammengezogen und zusätzliche Institutsgründungen ins Auge gefasst.
Fraunhofer-Institute sollen technologisch innovative Schnittstellen mit hohem wirtschaftlichem Potenzial besetzen und damit zu attraktiven Vertragspartnern für die Industrie werden. Der Projektzuschlag erfolgt im Wettbewerb. Erfolgreiche Institute benötigen demnach technologische Alleinstellungsmerkmale, aber auch Potenzial für synergistische Kooperationen vor allem mit der universitären Forschungslandschaft. Konzepte für Neugründungen müssen verschiedene Filterebenen innerhalb der Gesellschaft passieren, bis dann schlussendlich ein wissenschaftspolitisches Gremium aus Bundes- und Landesvertretern das Ergebnis bestätigt.
Der entsprechende Beschluss des Senats der FhG lag 2002 für das Konzept „Zelltherapie und Immunologie“ von Frank Emmrich vor, dem damaligen Inhaber des Lehrstuhls für Klinische Immunologie in Leipzig. Dies war eine mutige Entscheidung, denn seinerzeit war es noch keineswegs abzusehen, dass Zellen und Gewebe tatsächlich als Therapien neuen Typus für die klinische Anwendung in größerem Umfang relevant werden und die Industrie sich dieser Thematik zuwendet.
Allerdings erfolgte der Beschluss unter dem Vorbehalt der Finanzierung. Es bedurfte noch vieler weiterer Abstimmungen und einer Zusage der Stadt Leipzig, sich für die ersten fünf Jahre an den Betriebskosten des Instituts zu beteiligen, bis im Dezember 2004 die Institutsgründung gesichert war. Der Gründungsakt folgte am 29. April 2005, pünktlich am ersten internationalen Tag der Immunologie. Mit 16 Mitarbeitenden und einem Haushaltsvolumen von 450.000 € wurden die ersten Projekte in Angriff genommen.
Es erwies sich als hilfreich, dass kurz zuvor im Südosten Leipzigs, am Rande des früheren Messegeländes, ein großzügiger Gebäudekomplex mit 20.000 qm Fläche für Firmen und Forschungseinrichtungen entstanden war – die Leipziger „BIO CITY“. Dort konnten auf etwa 3.000 qm Labor- und Büroräume ausgebaut und angemietet werden. Die oberste Etage des Gebäudeflügels wurde als Reinst­raumbereich für die pharmazeutische Herstellung von Zell- und Gewebeprodukten mit besonderer Priorität fertiggestellt, sodass bereits 2007 die erste pharmazeutische Herstellungsgenehmigung gemäß GMP (good manufacturing practice) erteilt werden konnte.
Mit der Gründung des Fraunhofer-Instituts für Zelltherapie und Immunologie (IZI) verband der Freistaat Sachsen die Zusage für einen Neubau unmittelbar neben der BIOCITY. Aus heutiger Sicht erscheint es traumhaft, dass die komplexen Planungen und behördlichen Genehmigungsverfahren durch Ministerien, FhG, EU sowie Landesbehörden und durch städtische Ämter so gut koordiniert werden konnten, dass bereits 2008 das zentrale Laborgebäude in Betrieb genommen werden konnte.

Wissenschaftlicher und technologischer Fokus

Nun galt es, die konzeptionelle Verknüpfung von Zelltherapie und Immunologie von einer wissenschaftlichen Vision in Richtung der klinischen Realität zu führen. Hierfür seien einige wenige Projekte beispielhaft angeführt.
Der Einstieg begann mit der Herstellung bioartifizieller Haut aus autologen Haarwurzel-Stammzellen. Hinzu kamen weitere Aufträge aus dem Bereich der Regenerativen Medizin wie z. B. autologe Knorpelzellen. Schon bald begannen die ersten immunonkologischen Produktentwicklungen in Form von dendritischen Zell-Vakzinen durch internationale Auftraggeber. Mittlerweile hat sich der Schwerpunkt zu komplexen Kombinationen von Zelltherapie und extrakorporalem Gentransfer verlagert, wie sie für chimeric antigen receptor (CAR) T cells erforderlich sind. 2015 begann unter Leitung von Gerno Schmiedeknecht und im Auftrag der Pharmaindustrie die Arbeit an der GMP-gerechten Herstellung von Kymriah®, die 2018 zur europaweiten Zulassung führte.
Hochdosis-Chemotherapien zur Behandlung von Krebserkrankungen des blutbildenden Systems machen die Transplantation von Blutstammzellen erforderlich. Sofern dafür allogene Zellen eingesetzt werden, wird die graft versus host disease (GvHD) als lebensbedrohliche Nebenwirkung gefürchtet. Aufbauend auf Vorarbeiten und Konzepten von Frank Emmrich, konnte Stephan Fricke ein Antikörper-basiertes Verfahren zur Prävention der GvHD entwickeln und einen Industriepartner für die klinische Prüfung gewinnen.
Koordiniert durch Sebastian Ulbert und gefördert mit EU-Mitteln wurden in einem internationalen Konsortium Impfstoff-Kandidaten für das West-Nil-Virus (WNV) entwickelt. Auch im tiermedizinischen Bereich ist das Fraunhofer-IZI tätig. So gelang es, im Industrieauftrag einen neuartigen Impfstoff gegen den Befall von Küken mit der roten Vogelmilbe zu entwickeln. Gefördert durch die Bill & Melinda Gates Foundation und in enger Zusammenarbeit mit zwei weiteren Fraunhofer-Instituten (FEP und IPA) gelang es, ein neuartiges, generell nutzbares Verfahren zur Pathogen-Inaktivierung für die Impfstoffherstellung bis zur Praxisreife zu entwickeln.
Im Bereich Diagnostika wurde unter Leitung von Friedemann Horn das RIBOLUTION Biomarker Center als Technologie-Plattform für die Entdeckung und den Einsatz von nicht-kodierenden RNA-Biomarkern aufgebaut. Damit konnten neue diagnostische Ansätze zur Früherkennung von Prostata-Karzinomen gefunden werden.

Entwicklungsschritte

Als wichtigstes Organisationsmodul wurden anfangs Arbeitsgruppen eingerichtet. Bis 2007 wuchs deren Zahl auf 17 heran. Fünf der Gruppenleiter wurden aus dem Lehrstuhl für Klinische Immunologie übernommen, die übrigen über Ausschreibungen oder Personalagenturen gewonnen. Nur drei von ihnen brachten bereits Industrie-Erfahrung aus leitenden Positionen mit.
Die Arbeitsgruppen erhielten jährliche Budgets und viel Entscheidungsspielraum, verbunden mit der Vorgabe, ihre wissenschaftlich-experimentelle Arbeit in Projekten zu organisieren und Kooperationen mit der Industrie zu suchen. Daraus entwickelten sich sehr rasch unterschiedliche Ergebnisse bei Projekteinwerbungen, Erfolgsbilanzen und Personalstärken der verschiedenen Gruppen.
Die Wirtschaftskrise 2007/08 blieb nicht ohne Folgen für die FhG und auch nicht für das Leipziger Institut. Zu Beginn des Jahres 2009 deutete sich ein erhebliches Defizit an. Daraufhin wurde noch im gleichen Jahr die Organisation erheblich gestrafft. Alle Gruppen wurden von budgetärer Finanzierung auf projektgetragene Finanzierung umgestellt und in größere Strukturen in Form übergreifender Abteilungen eingegliedert. Die Teilhaushalte der Arbeitsgruppen blieben erhalten, Personalhoheit und Budgetverantwortung wechselten jedoch in die Abteilungsleitung. Damit verbunden war ein Regelwerk über interne Leistungsverrechnungen und Leistungsprämien und die Übertragung von Bilanz­ergebnissen in das folgende Jahr.
Mit diesem Maßnahmenbündel und durch die gemeinsamen Anstrengungen der gesamten Belegschaft gelang es, die wirtschaftliche Lage des Instituts rasch zu stabilisieren und seit 2010 ausschließlich positive Jahresergebnisse vorzulegen. 2013 und 2015 konnte das Institut am Standort Leipzig um zwei weitere Gebäude, die durch schwebende Wandelgänge miteinander verbunden sind, auf etwa 10.000 qm Nutzfläche erweitert werden. Auch ein direkter Übergang zur BIOCITY wurde geschaffen. Im Obergeschoss liegen auf diese Weise alle Reinstraum-Bereiche in einer Ebene.
Erfolgreiche Fraunhofer-Institute gründen oft weitere Standorte im In- und Ausland, um damit besonders erfolgreiche Wissenschaftler zu rekrutieren und passfähige Technologien zu erlangen. So entstand 2011 die Projektgruppe Extrakorporale Immunmodulation (EXIM) unter Leitung von Steffen Mitzner an der Universität Rostock, um das technische Know-how erfahrener Dialysespezialisten für Behandlungsverfahren unter Einsatz lebender Zellen auch außerhalb des Körpers nutzbar zu machen. Unter Leitung von Hans-Ulrich Demuth kam 2013 eine weitere Projektgruppe in Halle/Saale hinzu, deren Schwerpunkt die Modellierung und Entwicklung von Wirkstoffen und insbesondere von Enzym-Inhibitoren ist. 2014 wurde dem Fraunhofer-IZI ein bereits bestehender Institutsteil in Potsdam/Golm angegliedert, dessen Expertise bei Bioanalytik und Bioprozessentwicklung liegt und dessen Management durch Hans-Ulrich Demuth erfolgreich reformiert werden konnte. Schließlich wurde 2017 das Projektzentrum für Mikroelektronisch-Optische Systeme in Erfurt gegründet, das gemeinsam mit zwei anderen Fraunhofer-Instituten (IPMS und IOF) betrieben wird.
Fraunhofer-Institute legen Wert auf Personalentwicklung. Deswegen fördert das IZI den wissenschaftlichen Nachwuchs in besonderem Maße durch Seminare und Weiterbildung. Seit der Gründung sind mehr als 1.000 wissenschaftliche Publikationen erschienen und jährlich werden etwa 50 akademische Graduierungen durch kooperierende Universitäten und Hochschulen verliehen.
Seit seiner Gründung organisiert das Institut – häufig gemeinsam mit einschlägigen Fachgesellschaften – wissenschaftliche Workshops, Symposien und auch große internationale Kongresse wie den World Congress for Regenerative Medicine (WCRM) von 2007 bis 2015 in zweijährigem Abstand mit jeweils etwa 1.000 internationalen Gästen. Seit 2007 findet jährlich im Herbst das Fraunhofer Life Science Symposium Leipzig mit bis zu 200 Teilnehmern am Institut selbst statt. Mit stets wechselnder Thematik werden aktuelle Themen aufgegriffen und die betreffenden Experten zusammengeführt.
Ab 2020 wird die Veranstaltungsreihe durch die Leipzig Immune Oncology Conference (www.lion-conference.com) abgelöst, die das Institut gemeinsam mit dem universitären Krebszentrum am Universitätsklinikum Leipzig organisiert.

 

Kooperationen, Projekte und Ausblick

Das Fraunhofer-IZI kooperiert jährlich im Schnitt mit jeweils 150 Partnern aus Forschung und Industrie und bearbeitet parallel etwa 160 Projekte im Auftragsvolumen von wenigen 10.000 € bis zu mehr als 5 Millionen Euro. Mehr als 130 Mitarbeitende sind mit der Herstellung von therapeutischen Zellprodukten in pharmazeutischer Qualität befasst. In begrenztem Umfang und in Kooperationen, z. B. mit der Max-Planck-Gesellschaft und der Helmholtz-Gemeinschaft, werden auch Grundlagenaspekte mit Anwendungspotenzial untersucht, wie die präzise Lokalisation von Epitopen in dreidimensionalen Wirkstoffsynthesen.
Eine wichtige Ebene für die Anbahnung von Industrieprojekten und die Akquise von Aufträgen sind Schutzrechte für Produkte oder Verfahren. Derzeit verfügt das Institut über ein Portfolio von 40 Patentfamilien und 174 Patente und Anmeldungen. Die Projektleiter werden durch die Stabsstelle für Business Develop­ment und Patentmanagement bei der Akquise von Projekten, Patentierungen und Vertragsabschlüssen unterstützt.
Darüber hinaus hat das Institut in den vergangenen zehn Jahren insgesamt 19 Ausgründungen und Ansiedlungen von Unternehmen am Standort Leipzig unterstützt. Bei den Ansiedlungen handelte es sich meist um Tochterunternehmen von internationalen Vertragspartnern, die in unmittelbarer Nähe zum Fraunhofer-IZI, häufig in der benachbarten Biocity, gegründet wurden, z. B. um von hier aus klinische Studien mit Produkten zu organisieren, die am Fraunhofer-Institut für sie weiterentwickelt und hergestellt wurden.
Das Institut ist derzeit mit einem Personalbestand von 661 Mitarbeitenden und einem jährlichen Projektumsatz von über 35 Millionen Euro zu einem der größten Institute innerhalb Fraunhofer herangewachsen. Es betreibt sechs inländische Standorte (Leipzig, Halle/S., Potsdam/Golm, Hannover, Rostock, Erfurt) und drei internationale Dependancen (Hamilton/Kanada, Gwangju/Südkorea, Melbourne/Australien).
2018 wechselte die geschäftsführende Institutsleitung von Frank Emmrich zu Ulrike Köhl. Sie brachte weitere Projekte vor allem in Bezug auf den klinischen Einsatz von natural killer (NK) cells und ihren gesamten früheren Arbeitsbereich an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) als weiteren Institutsteil des Fraunhofer-IZI ein. Das F&E-Profil Immunonkologie wird dadurch maßgeblich verstärkt und auch in Zukunft ausgebaut.

Autoren
Frank Emmrich

Frank Emmrich (70) ist Mediziner und Immunologe und war von 1981 bis 1994 als Gruppenleiter bei der Max-Planck-Gesellschaft in Freiburg/Br. und Erlangen tätig. 1994 folgte er dem Ruf an die Universität Leipzig auf den C4-Lehrstuhl für Klinische Immunologie. 2005 eröffnete er als Gründungsdirektor das Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie und leitete es geschäftsführend bis 2018. Bis 2015 war er Direktor des Translationszentrums für Regenerative Medizin der Universität Leipzig und gehörte von 2008–2016 dem Deutschen Ethikrat an.