Einleitung
Impfen ist eine der bedeutendsten Entdeckungen der Menschheit. Diese Form der Prävention kann geimpfte Personen unmittelbar vor schwerwiegenden Infektionskrankheiten schützen und bei einer ausreichend hohen Impfquote in einer Population sogar einer Infektion ungeimpfter Personen vorbeugen (Herdenimmunität bzw. Gemeinschaftsschutz) und Krankheiten eliminieren [1]. Anfang 2019 setzte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) vaccine hesitancy, also Impfmüdigkeit, auf die Liste der zehn größten Bedrohungen für die globale Gesundheit [2]. Unter dem Begriff Impfmüdigkeit fasst die WHO das Phänomen zusammen, dass Individuen Impfungen verzögert oder gar nicht durchführen lassen, obwohl die notwendigen Impfstoffe zugänglich sind [3]. Die Gründe für Impfmüdigkeit sind komplex und kontextspezifisch [3]. Bereits im Jahr 2013 legte die WHO im „Global Vaccine Action Plan“ das strategische Ziel fest, Impfmüdigkeit zu reduzieren und damit Impflücken zu schließen [4]. Auch in Deutschland gibt es Impflücken. Das Robert Koch-Institut (RKI) führt ein regelmäßiges Monitoring der Impfquoten auf der Ebene der Bundesländer durch. Mithilfe der Daten zum Impfstatus aus den Schuleingangsuntersuchungen und der KV-Impfsurveillance (KV – Kassenärztliche Vereinigung) werden immer wieder Impflücken diagnostiziert, beispielsweise bei der zweiten Masern-Impfung zum Zeitpunkt der Schuleingangsuntersuchung oder der HPV-Impfung [5, 6]. Während das RKI über die regionalen Durchimpfungsraten detailliert Auskunft geben kann (siehe z. B. www.vacmap.de), bleiben die individuellen, psychologischen Gründe für Impflücken häufig unklar.
Impfeinstellung – Impfskepsis
Die Entscheidung für oder gegen eine Impfung wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Beispielsweise spielt die individuelle Einstellung zum Impfen eine Rolle [7, 8]. Ergebnisse der repräsentativen Infektionsschutzstudie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) zeichnen für Deutschland auf den ersten Blick ein positives Gesamtbild. Impfungen werden grundsätzlich (eher) befürwortet (befürwortend: 54 %, eher befürwortend: 23 %); nur ein sehr kleiner Teil der Allgemeinbevölkerung äußert zum Thema Impfen eine (eher) ablehnende Einstellung (eher ablehnend: 3 %, ablehnend: 2 %) [9]. Die Entwicklung der generellen Impfeinstellung verlief im Zeitraum von 2012 bis 2016 positiv. Während der Anteil der (eher) Ablehnenden relativ konstant blieb, nahm der Anteil der beim Thema Impfen Unentschlossenen im Zeitverlauf ab. Allerdings ist 2016 der Anteil der Unentschlossenen mit 18 % [9] immer noch hoch und kann im Zweifelsfall das Ziel der Elimination von Infektionskrankheiten gefährden.
Die Studie der BZgA liefert Hinweise darauf, wie die Impfeinstellung das Impfverhalten beeinflusst: So geben Befragte mit einer (eher) ablehnenden Impfeinstellung im Vergleich zu Befragten mit einer (eher) befürwortenden Impfeinstellung häufiger an, in den letzten Jahren eine Impfung ausgelassen zu haben (46 % vs. 25 %) [9]. Diese Ergebnisse weisen darauf hin, dass Impflücken in Deutschland auch durch Impfmüdigkeit begünstigt werden. Personen, die eine Impfung nicht haben durchführen lassen, sind jedoch nicht automatisch der Gruppe der Impfgegner zuzuordnen; auch kann man nicht darauf schließen, dass eine Impfung absichtsvoll und nach bewusster Entscheidung ausgelassen wurde. Nicht-Impfen kann viele verschiedene Gründe haben; darauf gehen wir weiter unten ein. Zunächst ist es jedoch wichtig, Impfgegner von Skeptikern und Unentschlossenen zu unterscheiden.
Impfgegner, die auf Englisch auch als vaccine denier bezeichnet werden, lassen sich nicht durch Argumente überzeugen. Sie haben eine sehr negative Einstellung zum Thema Impfen, ignorieren jegliche wissenschaftliche Evidenz und nehmen aktiv Gegenpositionen ein. Interventionen zur Steigerung der Impfbereitschaft oder Veränderung der Einstellung zum Impfen werden daher mit hoher Wahrscheinlichkeit bei Impfgegnern nicht die gewünschten Effekte erzielen (siehe nächstes Kapitel für den Umgang mit Techniken von Impfgegnern) [10]. Unentschlossenheit und Skepsis hingegen sind Ausdruck und Triebfeder einer wissbegierigen Gesellschaft, die aus vielen verfügbaren Informationen auswählen kann – beziehungsweise muss. Aus psychologischer Perspektive kennzeichnet sich Impfskepsis dadurch, dass wissenschaftliche Fakten in die Bewertung von Behauptungen einbezogen werden und entscheidungsrelevant sind [10]. Haltungen und Einstellungen werden also angesichts neuer Evidenz aktualisiert und verändert. Dieser Wissensdurst kann, wenngleich der Prozess mühsam ist, eine Chance sein, mit guten Informationen wichtige Überzeugungsarbeit zu leisten. Im Umgang mit Impfmüdigkeit ist es daher entscheidend, genau zu identifizieren, aus welchen Gründen Individuen sich nicht impfen lassen.
Gründe des (Nicht-)Impfens messen und gezielt intervenieren
Internationale Studien zeigen, dass neben der Impfeinstellung weitere Faktoren eine Rolle spielen [8]. In der Psychologie werden diese Faktoren als Antezedenzien bezeichnet. Das „5C-Modell“ fasst die Antezedenzien des (Nicht-)Impfens zusammen [11]:
- Confidence (Vertrauen in die Sicherheit und Effektivität von Impfungen);
- Constraints (Barrieren in der Ausführung, z. B. Stress, Zugangsschwierigkeiten);
- Complacency (Risikowahrnehmung von impfpräventablen Krankheiten);
- Calculation (rationale Abwägung von Nutzen und Risiken von Impfungen, ausschweifende Informationssuche);
- Collective Responsibility (Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft).
Mithilfe von 5 bzw. 15 Fragen (psychometrisch validierte Kurz- bzw. Lang-Skala) können diese Antezedenzien erfasst werden. Je nachdem, wie sie in einer Zielpopulation ausgeprägt sind, sind unterschiedliche Interventionen geeignet, um Impflücken zu verringern [12]. Tabelle 1 führt für die fünf Antezedenzien die Definition, das zugehörige Item der Kurz-Skala und Beispiele für zielgerichtete Interventionen an.