Die Entwicklung der Pockenschutzimpfung mit Kuhpockenlymphe (genannt Vakzination) wird heute gemeinhin dem englischen Arzt Edward A. Jenner (1749–1823) zugeschrieben, und bedeutende Mikrobiologen und Immunologen, wie der Franzose Louis Pasteur (1822–1895) oder der Deutsche Emil von Behring (1854–1917), sahen sich in der Nachfolge Jenners oder haben sich später auf ihn bezogen [1, 2]. Die Charakterisierung Jenners als Entdecker oder Entwickler eines Impfstoffes gegen Pocken ist allerdings nicht ganz korrekt und erklärungsbedürftig. Bereits im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurden in Büchern zur Geschichte der Pockenschutzimpfung Personen genannt, die bereits vor Jenner Schutzimpfungen gegen Pocken mit Kuhpockenlymphe durchgeführt hatten [3, 4]. Peter C. Plett hat 2006 gezeigt, dass im 18. Jahrhundert vor oder parallel zu Jenner auch im deutschen Raum Kuhpockenlymphe zum Schutz vor Pocken geimpft wurde [5]. Der nachfolgende Artikel liefert auf Basis der Literatur einen Überblick über die Entwicklung der Pockenschutzimpfung im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Nach einem kurzen, allgemeinen historischen Abriss zur Geschichte der Pockenimpfung im 18. Jahrhundert werden die Entwicklungen insbesondere im deutschen bzw. im damaligen deutsch-dänischen Raum im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zusammengefasst sowie die Rezeption der Jennerschen Schutzimpfung in Deutschland um und kurz nach der Jahrhundertwende skizziert. Zuletzt wird die Diskussion über die Priorität der Entdeckung der Vakzination selbst kritisch erörtert.
Schlüsselwörter: Inokulation, Vakzination, Variolation, Peter Plett, Edward A. Jenner, Benjamin Jesty
Pockenerkrankung im 18. Jahrhundert
Die auch als Blattern bezeichneten Pocken war eine seit dem Altertum weithin bekannte und gefürchtete Krankheit. Im 18. Jahrhundert waren Pocken die vorherrschende Seuche, und in Unkenntnis des spezifischen viralen Erregers subsummierte man unter ihrem Erscheinungsbild auch mildere Erkrankungen mit ähnlichen Symptomen wie Masern oder Windpocken. Die Ansteckungsgefahr war bei mangelnden hygienischen Bedingungen hoch, und nach Eberhard Wolff, Manfred Vasold und Stefan Winkle erkrankten ungefähr zwei Drittel der Bevölkerung, wobei insbesondere Kinder betroffen waren [6: 181; 7; 8: 101]. Die Mortalitätsrate lag abhängig von der Virulenz zwischen zwanzig und dreißig Prozent, und Ende des 18. Jahrhunderts starben auf dem Gebiet des Deutschen Reiches jedes Jahr zwischen 60.000 und 70.000 Menschen1). Die Krankheit war jedoch nicht nur wegen der hohen Sterblichkeit gefürchtet, sondern besonders wegen ihrer peinigenden Symptome und möglicher Folgeerkrankungen. Nach einer zehn- bis dreizehntägigen Inkubationszeit zeigte die erkrankte Person schwere Infektionserscheinungen wie Mattigkeit und Hinfälligkeit, nervöse Reizung, hohes Fieber und hohen Puls, starke Kopf- und Kreuzschmerzen, Reizungen der Haut und Schleimhaut sowie Ausschläge oder Erytheme. Nach vier Tagen bildeten sich auf der Haut und den inneren Schleimhäuten kleine Bläschen, die zu Knötchen anwuchsen und schließlich zu Eiterpusteln mutierten, die zuweilen ineinander übergehend den ganzen Körper bedeckten. Da auch die inneren Schleimhäute in Mitleidenschaft gezogen waren, traten diphtherieähnliche Erscheinungen im Rachen auf, schwere Diarrhöen, und es drohte Blindheit durch Zerstörung der Hornhaut. Nachdem das Fieber nach der Initialphase erst gesunken war, stieg es in der folgenden Entzündungsphase wieder an. Die Schmerzen wurden begleitet und abgelöst durch einen starken Juckreiz, wenn die Pusteln nach ca. zwei Wochen verschorften und abfielen, sodass rasende Kranke, um sich nicht die Haut aufzukratzen, mitunter fixiert wurden [4: 8–14]. Die hohe Sterblichkeit und die grausamen Krankheitserscheinungen führten schon früh dazu, dass man versuchte, den Ausbruch von Pocken zu verhindern – oder zumindest die Symptome abzuschwächen.
Pockenschutzimpfung im 18. Jahrhundert
In China waren seit dem 10. Jahrhundert Impfpraktiken bekannt, und aus Indien sind seit der frühen Neuzeit Praktiken überliefert [9]. Dort sowie in angrenzenden Ländern des Nahen Ostens traten Pocken endemisch mit unterschiedlicher Virulenz auf. Nachdem jemand Pocken mit mildem Krankheitsverlauf überstanden hatte, wurden noch nicht erkrankte Kinder in die mit Eiter verschmierten Laken eingewickelt, damit sie ebenfalls erkrankten. Im 17. und 18. Jahrhundert war es in den ländlichen Regionen des Nahen Ostens ebenfalls üblich, dass ältere Frauen den an einer milden Verlaufsform Erkrankten Sekret aus den Pusteln entnahmen, oder Schorf und getrocknete Borke der Genesenden sammelten, um diese noch nicht erkrankten Kindern in die Haut einzuritzen, um eine Erkrankung mit ähnlich mildem Verlauf hervorzurufen [9 und 10: 21]. Man ging schon damals davon aus, dass einmal Erkrankte fortan unempfindlich gegen Pocken waren; ähnliche Verfahren der Mensch-zu-Mensch-Übertragung (Variolation) zum Schutz vor Ansteckung waren auch in ländlichen Gebieten in England, Wales, Schottland, Nordamerika sowie in deutschen Territorien bekannt [10: 21 f.; 11: 33–45; 4: 115–8).
Während ihres Aufenthalts in Konstantinopel von 1716 bis 1718, wo ihr Ehemann als Diplomat tätig war, beobachtete Lady Mary Wortley Montague (1689–1762) die Inokulation, das Einbringen und Einritzen von Krankheitsmaterial in die Haut. Von der Wirksamkeit überzeugt, bat sie den Arzt der Botschaft, ihren Sohn entsprechend zu behandeln, um ihn vor dem willkürlichen Ausbruch der Pocken zu schützen. Nach ihrer Rückkehr nach England ließ sie während einer schweren Pockenepidemie 1721 in London ebenfalls ihre Tochter gegen Pocken impfen. Lady Montague, die zu einer bedeutenden Schriftstellerin und Intellektuellen ihrer Zeit werden sollte, machte die Variolation auch in der englischen Oberschicht bekannt – sie überzeugte auch den englischen König George I. (1660–1727), seine Enkel impfen zu lassen2) – und warb für ihre Anwendung3). Sie machte die Variolation einer breiteren Gesellschaftsschicht bekannt und, da die Impfungen nun von Medizinern oder Chirurgen vorgenommen wurden, überführte sie sie aus dem Bereich der Volksmedizin in die sich formierende professionelle Medizin4). Bereits ein Jahr später wurde die Variolation auch in dem vom englischen König in Personalunion regierten Hannover angewendet. Allerdings handelte es sich nur um Einzelfälle, und erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde das Verfahren in Deutschland bekannter [4: 135–7; 8: 102–8]. Die Variolation blieb als medizinisches Verfahren auf Städte, und dort auf die soziale Oberschicht – und somit eine überschaubare Zahl – beschränkt, und wurde meist nur bei Ausbruch einer lokalen Epidemie durchgeführt.
Die Gründe für die zögerliche Durchsetzung der Variolation waren vielfältig. Das Verfahren hatte drei entscheidende Nachteile: Zum einen war der Verlauf der Impfung nicht oder allenfalls schwer vorherzusagen. Auch wenn der Impfstoff von jemandem stammen mochte, dessen Krankheit mild verlaufen war, so konnte der Impfling gleichwohl schwer erkranken oder die gefürchteten Komplikationen erleiden. Zum zweiten war auch bei einer vermeintlich erfolgreich verlaufenden Impfung nicht gewährleistet, dass der Impfschutz wirkte. Auf Ebene der Bevölkerung konnte die Impfung drittens dazu führen, dass eine Epidemie verschleppt wurde oder durch die Impfung überhaupt ausbrach [4: 123–30; 8: 105–8].
Die Inokulation von Kuhpocken-Krankheitsmaterial vor Jenner in Großbritannien
Patrick J. Pead [15, 16] konstatiert in seiner Biographie über Benjamin Jesty, dass im ländlichen Raum Erzählungen über Milchmädchen und Hirten, die die Kuhpocken überstanden hätten und somit lebenslang gegen menschliche Pocken geschützt seien, seit jeher weithin bekannt waren. Bei den Kuhpocken, deren Symptome sich ebenfalls in Form von Bläschen und sich daraus bildenden eitrigen Pusteln äußerten, und die auch auf den Menschen übertragbar waren, verlief das Krankheitsbild wesentlich abgeschwächter. Obwohl Edward Jenner lange Zeit zugeschrieben wurde, diese Beobachtung erstmals gemacht zu haben, hat es in den letzten Jahrzehnten immer wieder Publikationen gegeben, die diese „Entdeckung“ anderen Personen zugeschrieben haben [17, 9, 15, 18, 14]. Bereits nach Edward Jenners umstrittener Veröffentlichung Inquiry into the Causes and Effects of the Variolae Vaccinae 1798 [19] und dem anschließenden Erfolg der als Vakzination bezeichneten Praxis der Inokulation von Kuhpocken-Krankheitsmaterial (abgeleitet aus dem lateinischen „vacca“ für Kuh), zum Zweck der Impfung, äußerten sich Zeitgenossen, dass sie – oder ihnen bekannte Personen – die gleiche Praxis bereits vor Jenner ausgeübt und somit „erfunden“ hätten: Bereits in den 1760er-Jahren [5] soll John Fewster (1738–1824) in Thornbury, mit dem der junge Edward Jenner während seiner Ausbildung zusammengetroffen war [21], Kuhpocken-Material bei der Inokulation verwendet und später darüber berichtet haben [14]. Ebenso habe sich der Landwirt Benjamin Jesty (1736–1816) aus Yetminster das Wissen, dass eine vormalige Infektion mit Kuhpocken vor den „echten Pocken“ schütze, 1774 nach Ausbruch der Pocken in der Grafschaft Dorset zunutze gemacht. Jesty selbst war in früheren Jahren an Kuhpocken erkrankt und wähnte sich immun gegen Pocken. Allerdings wollte er sicherstellen, dass auch seine Familie geschützt war, und daher wanderte er zusammen mit seiner Ehefrau und den beiden Söhnen zu einer Rinderherde einige Meilen entfernt in der Gemeinde Chetnole, von denen einige dem Vernehmen nach die Symptome der Kuhpocken zeigen sollten. Dort angekommen, stach er mit einer Nadel einige Pocken-Pusteln bzw. Läsionen am Euter erkrankter Kühe auf, entnahm Sekret aus den Wunden und brachte es, ähnlich wie bei der Variolation, auf dem Arm seiner Ehefrau und seiner Söhne auf, indem er es in die Haut einritzte. Die Körpertemperatur seiner Ehefrau stieg rasch nach der Inokulation an; neben dem Fieber bildeten sich Pocken auf dem Arm und er schwoll an, aber nach einiger Zeit genas sie. Die Impfung erregte in der Gegend einiges Aufsehen, so Pead, und Jesty wurde für die nach Meinung seiner Zeitgenossen gefährliche Transaktion kritisiert und angefeindet [15].