Kontroverse Diskussion

Citratgepufferte Röhrchen für die Blutzuckermessung

Zusatz von Citrat stoppt den Glukoseabbau in Blutentnahme­röhrchen effektiver als Fluorid allein. Doch die Abwägung von Vor- und Nachteilen erweist sich als keineswegs trivial.

Diabetes mellitus wird durch die steigende Prävalenz zu einem immer größeren Problem im Gesundheitswesen: Die Mortalität hat sich zwischen 1990 und 2010 verdoppelt und ist damit weltweit von der 15. auf die 9. Stelle der Todesursachen-Statistik geklettert[1]. Da viele Diabetiker zum Zeitpunkt der Diagnosestellung bereits makro- und/oder mikrovaskuläre Komplikationen aufweisen, werden bei Risikogruppen sys­tematische Screenings empfohlen.
Die frühe Diagnostik eines Diabetes im Allgemeinen und des Schwangerschafts­diabetes im Besonderen erfordert deshalb im gesamten labormedizinischen Prozess Standardisierungen, über die aber erstaunlicherweise erst in den letzten Jahren ein (noch immer nicht vollständiger) Konsens erreicht wurde. Derzeit gültige internationale Festlegungen sind in der Tabelle auf der nächsten Seite zusammengefasst.
So einigte man sich darauf, die Glukosekonzentration im venösen Plasma und die HbA1c-Konzentration im Vollblut standardisiert zu bestimmen. Für die Diagnose eines Dia­betes mellitus dient neben der Nüchternplasmaglukose HbA1c als primäre Zielgröße; im Graubereich wird ergänzend der orale Glukosetoleranztest (oGTT) nach WHO-Kriterien mit 75 g Glukose über zwei Stunden durchgeführt. Dagegen spielt HbA1c in der Leit­linie für den Gestationsdiabetes mellitus (GDM), der in der Schwangerschaft erstmals – und häufig nur passager – auftritt, keine Rolle. Hier stehen Nüchternglukose und oGGT an erster Stelle, und es gelten auch niedrigere Schwellenwerte als beim manifesten Diabetes. Eine optimale Kontrolle des GDM bedeutet Euglykämie in allen Stadien der Schwangerschaft und nach der Geburt.
An dieser besonderen Bedeutung der Glukosebestimmung bei Schwangeren mag es liegen, dass die im Folgenden beschriebene Diskussion um das richtige Probenmaterial (Spezimen) für die Glukosemessung ganz wesentlich von der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe – in Ko­operation mit der Deutschen Diabetes­gesellschaft – in Gang gesetzt wurde[2].

Glukoseverbrauch beim Transport

Es ist allgemein bekannt, dass die Glukosekonzentra­tion im Plasma während des Transports aufgrund der fortwährenden Glykolyse in den Blutzellen sukzessive sinkt. Um falsch-niedrige Blutzuckerwerte zu vermeiden, gibt es letztlich nur zwei Strategien: die sofortige Messung vor Ort (zur Problematik s. S. 38) oder die Stabilisierung der Glukose in der Probe. Hierfür wird traditionell Lithium-Heparinat oder Natriumfluorid (NaF) und EDTA empfohlen, doch es zeigte sich, dass es in derart präparierten Röhrchen während der ersten vier Stunden nach Blutentnahme zu einer Verminderung der Glukosekonzentration um bis zu 7% kommen kann, sodass leicht erhöhte Werte fälschlich als normal eingestuft werden.
Vor diesem Hintergrund empfehlen die Diabetes-Gesellschaften der USA und Deutschlands entweder den Transport zusatzfreier Probenmaterialien auf Eis (was bei der großen Zahl der Untersuchungen kaum praktikabel ist) oder die Blutentnahme in citrathaltigen Röhrchen[2, 3]. Während nämlich NaF mit der Enolase einen relativ späten Schritt in der Glykolyse hemmt, blockiert eine leicht saure Citratlösung mehrere pH-abhängige Enzyme am Anfang dieses Stoffwechselwegs, insbesondere die Hexokinase und Phosphofructo­kinase. Die Kombination von NaF und Citrat begrenzt den Abfall der Glukosekonzentration auf weniger als 0,5% während der ersten zwei Stunden und auf maximal 1% in bis zu 24 Stunden.

Unterschiedliche Konfektionierung

Vor dem Hintergrund so eindeutiger Daten mag man sich wundern, warum sich die Verwendung citrathaltiger Röhrchen nicht schon – wie in Finnland, Dänemark, Schweden oder Polen – überall durchgesetzt hat. Wesentliche Gründe sind die je nach Hersteller unterschiedliche Konfektionierung der Röhrchen sowie eine schwierigere Prä- und Postanalytik bei der Gewinnung citrathaltiger Proben und der Berechnung des Ergebnisses.
Flüssiges Citrat in den Probenröhrchen führt zur Plasmaverdünnung und verlangt eine Multiplikation des Messergebnisses mit einem vom jeweiligen Hersteller vorgegebenen Faktor, während für Röhrchen mit Citrat als Festsubstanz keine Verdünnungskorrektur erforderlich ist.

Fehlerquellen

Labore, welche die Glukosekonzentrationen in unterschiedlichen Proben analysieren (Röhrchen verschiedener Hersteller, konventionelle NaF- oder Li-Heparinat-Proben), müssen die Ergebnisse also je nach Material unterschiedlich korrigieren. Diese Fehlerquelle kann zwar durch aufmerksames Personal, Videoerkennung der Röhrchen und entsprechende Programmierung des Laborinforma­tionssystems vermindert werden; solange aber keine einheitliche Konfektionierung des Citrats vorgegeben ist und andere Probenmaterialien nicht abgelehnt werden, bleibt immer ein Restrisiko, dass in Einzelfällen Glukosekonzentratio­nen um 5% zu tief oder 16% zu hoch berichtet werden.
Röhrchen mit flüssigem Citrat müssen zudem bei der Blutentnahme vollständig gefüllt werden, um Verdünnungsfehler zu vermeiden. Erfahrungen aus 27 Krankenhäusern in Deutschland, Österreich und der Schweiz zeigen, dass ca. 7% der Proben in Citrat-Röhrchen diese Vorgabe nicht erfüllen[4]. Labore gehen mit unvollständig gefüllten Röhrchen unterschiedlich konsequent um. Eigentlich müsste eine Wiederholung der Blutabnahme verlangt werden, und das gegebenenfalls inklusive oGTT bei der GDM-Diagnostik. Da dies den Patientinnen – insbesondere im niedergelassenen Bereich – jedoch nur schwer vermittelbar ist, messen viele Labore ohne Reklamation, was größere Fehler produzieren kann, als sie durch eine limitierte Glykolyse während des Transportes in konventio­nellen NaF-Röhrchen möglich wären.
Auch wenn Röhrchen mit Festsubstanzen die genannten Probleme der Verdünnungskorrektur und Unterfüllung nicht aufweisen, sind sie nicht problemlos, denn sie erfordern ein intensiveres Mischen der Probe – nach Herstellervorschrift 5- bis 10-maliges Drehen entlang der Längsachse. In Bereichen mit geschultem und motiviertem Personal – beispielsweise in diabetologischen Spezialambulanzen – mögen solche Anweisungen durchsetzbar sein, doch hier wird der Blutzucker ohnehin meist direkt vor Ort bestimmt. In der allgemeinärztlichen und gynäkologischen Praxis, für die die Citrat-Röhrchen ja vor allem konzipiert wurden, sind Zweifel angebracht. In der oben genannten Studie[4] wurden bei mehr als 60% der Blutentnahmen die Proben nicht korrekt gemischt.
Zu erwähnen ist schließlich der organisatorische Aufwand, der durch parallele Verwendung von zusätzlichen Systemen – vor allem im Krankenhaus – entsteht; das bedeutet mehr Material (Röhrchen, Adapter), Platzbedarf und Ausbildung.

Outcome-Studien gefordert

Die genannten Probleme wurden zwar bei den wissenschaftlichen Methodenvergleichsstudien, die den Leitlinien zugrunde liegen, perfekt kontrolliert, nicht aber im klinischen Alltag. Möglicherweise wird der unbestreitbare Vorteil der kompletteren Glykolyse-Hemmung durch die höhere Fehlerträchtigkeit bei der Blut­entnahme aufgehoben. Somit sind – im strengen Sinne einer evidenzbasierten Medizin – Outcome-Studien vonnöten, die den klinischen Nutzen des Citratzusatzes  belegen und unterschiedlich präparierte Blutentnahmeröhrchen vergleichen.
Letztlich würde eine komplikationslose Umsetzung der aktuellen Empfehlungen und Leitlinien erfordern, dass man sich auf einen einheitlichen Standard einigt, dass Ärzte und Pflege die präanalytischen Vorschriften konsequent einhalten, und dass alle Labore die Analytik falscher oder fehlerhaft gefüllter Probenröhrchen rigoros ablehnen. Ob dies durchsetzbar ist, wird derzeit intensiv und verständlicherweise auch kontrovers diskutiert.