Ist das mein Fuß oder mein Schuh?

Störungen der Körperwahrnehmung

Woher wissen Sie eigentlich, dass Ihr Fuß Teil Ihres Körpers ist, der Schuh aber nicht? Das Bewusstsein des eigenen Körpers erscheint uns so selbstverständlich, dass wir uns keine Gedanken darüber machen, wo die Grenzen unserer fleischlichen Materie liegen und wo genau die Umwelt anfängt. Und doch ist genau das eine komplexe Leistung des Gehirns, die eine Menge an sensorischem Input und komplizierten Berechnungen verlangt.
Dass das auch schiefgehen kann, beweisen zahlreiche neurologische und psychiatrische Störungen, bei denen die Betroffenen Schwierigkeiten mit der Körperwahrnehmung haben. Bekanntestes Beispiel aus dem Bereich der Psycho­somatik sind Magersüchtige. Bei ihnen hat sich das innere Körperschema verschoben: Obwohl schon massiv abgemagert, empfinden sie sich immer noch als zu dick. Boris Suchan aus Bochum konnte 2010 mit funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) zeigen, dass hier eine Fehlfunktion in einem Hirnareal vorliegt, das die Außen­grenzen des Körpers berechnet. Nach einer Körperbildtherapie vergrößerte sich das entsprechende Areal bei Anorexie-­Patientinnen und die Essstörung ging zurück. Magersucht ist also nicht einfach eine seelische Erkrankung, sondern besitzt ein deutliches hirnorganisches Korrelat.

Ein meterlanger Unterarm
Unangenehmste Variante von Störungen des Körperschemas sind physische Halluzinationen, im Fachjargon Zoenästhesien („Missempfindungen“) genannt. 1970 berichteten M. Alpert und Kollegen von einer Versuchsperson, die Antimuscarin erhalten hatte und daraufhin ihre Haut in sich zusammenschrumpfen fühlte. Ähnlich ausgeprägte Störungen der Körperwahrnehmung findet man bei Schizophrenie oder nach einem Schlaganfall. Von Asomatognosie spricht man, wenn der Betroffene das Gefühl verliert, dass bestimmte Körperteile zu ihm gehören, und vom Alien-Limb-Syndrom, wenn er glaubt, sie gehörten einem Fremden. Eine meiner Patientinnen – eine Epileptikerin – hatte nach einer Hirnblutung die unsinnige Empfindung, ihren Unterarm um mehr als einen Meter ausfahren zu können[1].
Zoenästhesien treten aber keineswegs nur unter Drogeneinwirkung oder bei Patienten mit psychiatrischen und neurologischen Erkrankungen auf; es gibt auch „normale“ Ursachen für Körperwahrnehmungsveränderungen, zum Beispiel Stress oder sportliche Anstrengung, Meditation oder Hypnose. Bei einer 2012 durchgeführten Internetbefragung[2] stellten wir fest, dass die allermeisten Menschen mindestens einmal im Leben physische Halluzinationen hatten. Am häufigsten ist offenbar die Empfindung, ein Körperteil sei zu schwer (47%) oder zu leicht (35%). Etwa jeder Vierte glaubte schon einmal zu schweben. Und jeder Fünfte gab an, dass er gemeint habe, ein Körperteil gehöre nicht zu ihm, sodass er also Fragen wie die eingangs gestellte nach „Fuß oder Schuh?“ nicht sicher beantworten konnte. Frauen scheinen bezüglich der Wahrnehmung solcher Körperveränderungen sensibler zu sein als Männer.
Ein berühmtes Experiment zu diesem Thema – die „Gummihand-Illusion“ – zeigt, dass man das Empfinden dessen, was zum eigenen Körper gehört, bei jedem normalen Menschen innerhalb kurzer Zeit verändern kann. In diesem Versuch wird eine sichtbare Gummihand gleichzeitig mit der nicht sichtbaren echten Hand des Probanden gestreichelt, bis dieser den Plastikarm für den eigenen hält und aufschreit, wenn der Versuchsleiter überraschend, statt zu streicheln, auf die Gummihand schlägt.

Bleibende Erinnerung
R. Melzack aus Quebec, Kanada, äußerte 1997 die Ansicht, dass auch Phantomglieder zu solchen Leib-Halluzinationen gehören. Nach der Amputation eines Körperteils treten oft Schmerzen in dem nicht mehr vorhandenen Arm oder Bein auf. Der durch viele populärwissenschaftliche Bücher berühmt gewordene, in San Diego lebende Neurologe Vilayanur Ramachadran beschrieb 2004 diverse Beispiele von Patienten, die die Illusion hatten, dieses nicht-existente Glied sogar bewegen zu können. Jede fünfte brustamputierte Frau spürt, wie die (fehlende) Brust beim Gehen wippt. Schuld daran trägt nach einer 1998 von K. D. Davis aus Toronto geäußerten Theorie einerseits das zugehörige somato­sensorische Areal im Parietallappen der Hirnrinde, andererseits aber auch die (erinnerte) Repräsentation des fehlenden Körperglieds in der tiefsten Tiefe des menschlichen Hirns, nämlich im Thalamus.

Hilfe, ich verlasse meinen Körper!
Die extremste Form von Zoenästhesien sind außerkörperliche Erfahrungen. Seit den Studien des amerikanischen Mediziners Raymond Moody werden sie oft mit Nahtoderfahrungen in Verbindung gebracht, tauchen aber auch bei zahlreichen anderen Störungen auf. Schon 1941 hatte der berühmte Neurochirurg Wilder Penfield gezeigt, dass eine scheinbare Dissoziation von Körper und Geist durch elektrische Stimulation des Schläfenlappens im Verlauf einer Hirn­operation hervorgerufen werden kann. Ein Patient rief plötzlich: „Oh Gott, ich verlasse meinen Körper!“ Eine andere Patientin fragte, ob sie noch im Operationssaal sei; sie hatte das Gefühl wegzuschweben.
Der Schweizer Neurologe Olaf Blanke konnte 2002 den Bereich weiter einengen, der für die Berechnung unserer visuell-räumlichen Selbstperspektive verantwortlich ist. Bei der Untersuchung einer Epileptikerin löste er durch elektrische Stimulation des Gyrus angularis im hinteren Schläfenlappen außerkörperliche Erfahrungen aus. Zunächst fühlte sie sich, als ob sie in das Kissen gezogen würde. Bei Erhöhung der Stromstärke hatte sie die Empfindung, sich außerhalb ihres Körpers zu befinden und bei weiteren Versuchen spürte sie ein Gefühl der Leichtigkeit und des Fliegens knapp unter der Decke. 
Eine weitere in diesem Rahmen interessante Störung ist die Body Integrity Identity Disorder (BIID), bei der Menschen meinen, ein Körperteil gehöre nicht zu ihnen. Im Gegensatz zu Asomatognosie nach schweren Hirnschäden, tritt BIID bei hirnorganisch völlig gesunden Menschen auf, die auch psychisch weitgehend unauffällig sind. Es handelt sich um eine Wahrnehmungsstörung, bei der das mentale Körpergefühl das eines Behinderten ist und mit dem intakten, äußeren Körper als nicht zusammenpassend empfunden wird. In der Mehrzahl ist es ein Bein, das sie amputiert haben möchten, seltener eine Hand oder ein Arm. Der amerikanische Psychiatrie-Professor Michael First wies 2005 darauf hin, dass der Wunsch schon seit frühester Kindheit besteht. Die Betroffenen sind sich über die Abnormität ihres Amputationswunsches völlig im Klaren; sie wissen auch, dass sie in ihrer Umgebung damit auf völliges Unverständnis stoßen. BIID kann großen Leidensdruck auslösen. Die Patienten haben das Gefühl im falschen Körper zu leben – vergleichbar etwa mit „Trans­identen“, die sich dem falschen Geschlecht zugehörig fühlen.

Transidentität
Auf den ersten Blick hat die Geschlechts­inkongruenz mit den hier vorgestellten Zoen­ästhesien nicht viel gemeinsam, und doch wissen wir seit einigen Jahren, dass auch diese letztlich auf einer Veränderung der Körperwahrnehmung beruht. 2008 fanden Garcia-Falgueras und Swaab in den Niederlanden „männliche“ bzw. „weibliche“ Hirnrindenbereiche mit geschlechtstypischem Volumen, 2009 lieferten genetische Studien von L. Hare aus Melbourne, Australien, Belege für den Einfluss der Androgenrezeptoren auf die subjektive Geschlechtszugehörigkeit, und 2012 belegten hirnanatomische Befunde von Leire Zubiaurre-Elorza in Madrid eine fehlerhafte Maskulinisierung bzw. Femininisierung entsprechender kortikaler Strukturen. Die Präferenz für ein bestimmtes Geschlecht wird offenbar zu einem sehr frühen Zeitpunkt der kindlichen Entwicklung hormonell geprägt, und entsprechende Hirnareale entwickeln sich dann typisch weiblich oder männlich, auch wenn der Chromosomensatz das entgegengesetzte Geschlecht vorgibt.
Der Körper sei der Palast der Seele, soll der spanische Philosoph Abraham Ibn Esra gesagt haben. Es sieht so aus, als würden sich erstaunlich viele Menschen – teils kranke, teils aber auch gesunde – in den Sälen dieses Palastes nicht zurechtfinden.

Literatur
[1] Spithaler F, Kasten E. Z. Med. Psychol. 1/2012, DOI:10.3233/ZMP-2012-2101
[2] Kasten E, Poggel D. Neurocase 2006;12: 98-106

Prof. Dr. Erich Kasten, Mitglied der Redaktion