Kraepelins Erbe neu bewertet

Psychiatrie

Vor über hundert Jahren definierte Emil Kraepelin (1856-1926) an der psychiatrischen Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität München die Dementia Praecox, die wenige Jahre später von Eugen Bleuler (1857-1936) als Schizophrenie bezeichnet wurde. Er grenzte sie anhand von Symptomatik und Verlauf – insbesondere dem frühen Beginn der Erkrankung, dem fortschreitenden geistigen Verfall und der eher ungünstigen Prognose –  vom „manisch-depressiven Irresein“ mit Erholung zwischen den Episoden und eher günstigem Verlauf ab. Diese Dichotomisierung zwischen Schizophrenie und affektiven Erkrankungen hat bis heute Auswirkungen auf diagnostische Klassifikationsysteme, psychopharmakologische und psychotherapeutische Therapieformen sowie die prognostische Einschätzung.
Doch ganz zufriedenstellend war dieses Konzept nicht, da es immer Mischformen gibt, etwa die von der Wernicke-Kleist-Leonhard Schule definierten „zykloiden Psychosen“ oder die „schizoaffektiven Erkrankungen“ der internationalen Klassifikationssys­teme. Häufig zeigen schizophrene Patienten affektive Symp­tome und umgekehrt findet man bei Depressionen durchaus auch Wahnvorstellungen. Zudem sind beiden Erkrankungsgruppen kognitive Defizite gemein.
In den letzten Jahren haben sich die bild­gebenden und molekularen Untersuchungsverfahren der Neurologie und Psychiatrie geradezu sprunghaft weiterentwickelt und überraschende neue Erkenntnisse erbracht. So publizierten britische Forscher 2010 eine viel beachtete Meta-Analyse an mehreren tausend schizophrenen und depressiven Patienten, in der mittels multivariater Magnetresonanztomografie (MRT) Volumenverluste in verschiedenen Gehirnregionen gefunden wurden. Trotz unterschiedlicher Ausprägung und Lokalisation gab es deutliche Überlappungen, die die beobachteten Mischformen erklären könnten.
Eine Multicenterstudie[1], an der Wissenschaftler unseres eigenen Instituts federführend beteiligt waren, fand 2013 mit Verfahren der Musteranalyse in zerebralen Strukturen zudem eine beschleunigte Alterung der Gehirne von schizophrenen Patienten, die in geringerem Maß auch bei affektiven Störungen auftrat. MRT-Techniken könnten in Zukunft in Kombination mit multivariaten neuropsychologischen Tests als prognostische Verlaufsmarker etabliert werden.
Neben diesen neuroanatomischen Befunden trugen vor allem genomweite Assoziations­studien (GWAS) dazu bei, Überlappungen zwischen schizophrenen und affektiven Erkrankungen im Detail zu charakterisieren. Die in der Titelgeschichte dieser Ausgabe beschriebenen NGS-Hochdurchsatztechniken erlauben es heute, an Tausenden von Patienten krankheitsbezogene Mutationen, SNPs (single nucleotide polymorphisms) und CNVs (copy number variations) zu erfassen; so wurden bereits über 100 Risikogene mit über 8.000 individuellen SNPs entdeckt. Die meisten weisen nur schwache Assoziationen auf, aber in der Summe schätzt man das genetische Risiko bei verschiedenen Psychosen auf bis zu 80 Prozent.
Besonders auffällige Überlappungen zwischen Schizophrenie, Depression, bipolarer Erkrankung, Autismus und ADHD (attention deficit hyperactivity disorder) fand man bei zwei SNPs der Kalziumkanal-Gene CACNA1C und CACNB2 [2], was auf ursächliche Zusammenhänge mit einer gestörten Signalübertragung hinweist. Auch unter den selteneren CNVs, die Duplikationen oder Deletionen ganzer Chromosomenabschnitte beinhalten, fanden sich gemeinsame Risikofaktoren für Schizophrenie mit mentaler Retardierung, Autismus, ADHD und Epilepsie.
Noch können die genannten genetischen Marker nicht für die Diagnostik genutzt werden; dafür sind die untersuchten Patientenstich­proben zu heterogen und ihre Beziehungen untereinander sowie mit der Umwelt zu komplex. Beispiele aus der Onkologie, wo die Problematik ja ganz ähnlich gelagert ist, weisen uns aber den Weg in die Zukunft: Es geht darum, Risikogene zu identifizieren, Inhibitoren zu finden und auf dieser Basis individualisierte Therapien zu entwickeln. Für die Fachgebiete der In-vitro- und In-vivo-Diagnostik ergeben sich aus der Kombination genetischer Marker mit multimodaler Bildgebung zudem große Chancen für eine interdisziplinäre Forschung, die aus der Neubewertung des Erbes von Emil Kraepelin praktische Nutzanwendungen für die Psychiatrie ableitet.

[1] Koutsouleris N et al. Schizophr Bull 2013, Epub
[2] Psychiatric Genomics Consortium. The Lancet; 381:1371

Prof. Dr. med. Andrea Schmitt und Dr. med. Berend Malchow