Hämatologie

Ein entscheidender Puzzlestein

FISH, PCR, NGS – immer mehr molekulardiagnostische Verfahren finden Eingang in die Leukämie- und Lymphomdiagnostik. Dadurch ändern sich überkommene Einteilungsschemata, prognostische Einschätzungen und Therapieentscheidungen.

Alles begann 1960 in Philadelphia, USA. Die Onkologen David Hungerford und Peter C. Nowell entdeckten bei einem Patienten mit chronisch lymphatischer Leukämie (CML) ein ungewöhnlich kleines Chromosom – und damit die erste genetische Veränderung, die eine Krebserkrankung auslöst. Bald zeigte sich, dass dieses in der obigen Abbildung gezeigte „Philadelphia-Chromosom“ bei 95 Prozent aller CML-Patienten auftritt: Durch eine Translokation zwischen den Chromosomen 9 und 22 entsteht aus den Genen BCR und ABL ein Fusionsgen BCR-ABL, dessen Produkt – eine Tyrosinkinase –  das Zellwachstum dauerhaft stimuliert.

Bei der Zellteilung brechen von den Chromosomen 9 und 22 kurze Stücke ab, die zum sog. Philadelphia-Chromosom fusionieren (Translokation). Dabei entsteht das krebsauslösende BRC-ABL-Gen (Bild: Wikipedia).

Diese Entdeckung war vor gut einem halben Jahrhundert bahnbrechend, weil damals die meisten Onkologen Krebs für eine virale Infektion hielten. Man kann es wohl als Glücksumstand bezeichnen, dass bei hämatologischen Malignomen häufiger als bei soliden Tumoren Chromosomenbrüche mit lichtmikroskopisch sichtbaren Deletionen und Translokationen auftreten.
Inzwischen sind die Techniken für die Genomanalyse – von der Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH) über die PCR bis zum Next Generation Sequencing (NGS) – jedoch geradezu explodiert; sie zeichnen in feinen Strichen ein immer detaillierteres Bild der genomischen Veränderungen, die der malignen Entartung zugrunde liegen. Dies führt dazu, dass die bislang üblichen, phänotypisch begründeten Klassifikationsschemata zunehmend durch genotypische Charakteristika ergänzt werden. Davon profitieren Ärzte und Patienten, denn die zusätzliche Information schafft mehr Sicherheit bei der Prognosebeurteilung und ermöglicht maßgeschneiderte Therapien.
So sprechen Patienten, bei denen das BCR-ABL-Fusionsgen vorliegt, auf eine Reihe von Tyrosinkinase-Inhibitoren (TKI) an, und zwar nicht nur bei der CML, sondern auch bei jenen rund 20 Prozent der Erwachsenen und 5 Prozent der Kinder mit akuter lymphatischer Leukämie (ALL), bei denen ebenfalls ein BCR-ABL-Rearrangement vorliegt.
Die überraschende genetische Verwandtschaft von zwei phänotypisch so weit auseinanderliegenden Erkrankungen wie CML und ALL macht deutlich, welch große Bedeutung der Molekulardiagnostik für das Verständnis hämatologischer Malignome zukommt: Man findet einerseits dieselben therapeutischen Zielstrukturen bei unterschiedlichen Erkrankungen, und andererseits untergliedern sich viele Leukämien und Lymphome, die bislang für homogen gehalten wurden, in Subgruppen mit höchst unterschiedlichen Therapieoptionen.
Ein klassisches Beispiel für eine solche therapeutisch relevante Aufspaltung auf Basis molekularbiologischer Erkenntnisse ist die akute Promyelozytenleukämie (APL). Sie erlangte durch die Entdeckung einer in 100 Prozent der Fälle vorhandenen Translokation zwischen Chromosom 15 und 17 mit einem PML-RARα-Fusionstranskript einen Sonderstatus innerhalb der akuten myeloischen Leukämien (AML): Es ließ sich zeigen, dass die APL hervorragend auf eine Kombination von All-trans-Retinolsäure und Arsentrioxid anspricht und – im Gegensatz zu allen anderen AML-Formen – möglicherweise keine Chemotherapie benötigt. Während die APL früher eine hohe Frühmortalität durch Blutungen und thromboembolische Ereignisse aufwies, heute zählt sie heute mit einer Remissionsrate von über 95 Prozent zu den am besten behandel­baren Leukämieformen überhaupt.

Ein vielfältiges Bild
Nach den offiziellen Tumorstatistiken zählen Leukämien und Lymphome zu den häufigen Krebsarten (siehe Abbildung unten). Doch im Gegensatz zu soliden Tumoren wie Mamma- oder Prostata-CA zerfallen sie unter der immer detaillierteren Diagnostik und immer gezielteren Therapie in viele kleine Untergruppen, von denen viele letztlich – ganz im Sinne einer individualisierten oder genauer gesagt „stratifizierenden“ Medizin – zum seltenen Ereignis werden. Das gilt ganz besonders für die größte Gruppe der diffusen Non-Hodgkin-Lymphome, die etwa 30 Prozent aller Non-Hodgkin-Lymphome ausmachen. Ihre buchstäblich „diffuse“ Nomenklatur basiert teils auf der Lokalisation (zum Beispiel primär kutan), teils auf der Morphologie (centroblastisch, anaplastisch, histiozytenreich etc.) sowie zunehmend auf Genexpressionskriterien (zum Beispiel ABC-like bzw. GCB-like DLBCL).

 

Mit knapp 40.000 Neuerkrankungen pro Jahr rangieren Leukämien und Lymphome auf Platz 5 aller Krebsarten in Deutschland; die 10 häufigsten machen gut 80 Prozent aus. NHL = Non-Hodgkin-Lymphom, AML/ALL = akute myeloische/lymphatische Leukämie, CML/CLL = chronische myeloische/lymphatische Leukämie. Quelle: Robert-Koch-Institut, Prognose für 2014. Abbildung: Trillium GmbH.

Prognostische Aussagen
Die zweithäufigste Lymphomklasse ist das multiple Myelom (ICD C90.0), das klinisch dem wesentlich selteneren Morbus Waldenström (ICD C88.0) ähnelt: Beides sind B-Zell-Lymphome, die monoklonale Immunglobuline sezernieren. Aus molekulardiagnostischer Sicht untergliedert sich das multiple Myelom je nach Translokationsmuster in Unterformen mit eher günstiger (zum Beispiel 11;14) oder ungünstiger (4;14, 14;16) Prognose, während der Morbus Waldenström nach 2012 publizierten NGS-Studien ein relativ homogenes Krankheitsbild zu sein scheint. Sein molekulares Kennzeichen ist eine Punktmutation im MYD88-Gen; mittlerweile werden bereits Inhibitoren des betroffen Interleukin-Signalwegs getestet.
In ähnlicher Weise könnte man nun zu jeder Säule in der Abbildung auf S. 25 umfangreiche molekulargenetische Studien zitieren, die das Puzzle der hämatologischen Malignome komplettieren. Beispielhaft sei abschließend noch einmal die akute myeloische Leukämie aufgegriffen, da hier mit NGS besonders eindrucksvolle Ergebnisse erzielt wurden. Ein Fokus der Forschung liegt auf dem  Übergang von den prä-malignen myelodysplastischen Syndromen (MDS) zum Malignom.
Im peripheren Blutbild und Knochenmarksausstrich ist die Grenze nur schwer zu ziehen: Von einer AML spricht man in der Regel, wenn mehr als 20 Prozent Blasten gefunden werden. Andere morphologische Kriterien wie etwa Auerstäbchen (irreguläre lysosomale Zellstrukturen) sind weniger eindeutig. In der Durchflusszytometrie findet man sowohl Antigene myeloischer als auch lymphatischer Linien. Die Zytogenetik liefert beim MDS Hinweise auf die Prognose. Als günstig gelten Deletionen in den Chromosomenarmen 5q, 11q, 12p oder 20q, während Deletionen, Inversionen und  Translokationen der Chromosomen 3, 7 und 17 für ein erhöhtes Entartungs­risiko sprechen.

Eine detailreiche Landschaft
In einer 2013 publizierten NGS-Studie[1] skizzierten Haferlach et al. anhand von knapp tausend Patienten eine eindrucksvolle „Landschaft genetischer Läsionen“ bei MDS, deren Detailreichtum weit über die geschilderten chromosomalen Befunde hinausgeht. Bei 90 Prozent der untersuchten Fälle fand sich mindestens eine von gut 100 Mutationen, allen voran in den tumorrelevanten Genen TET2 und SF3B1(jeweils ein Drittel) – und das, obwohl zwei Drittel der Patienten bei der Karyotypisierung ein normales Chromosomenmuster aufwiesen. Spannender noch war die eindeutige Korrelation von Art und Anzahl der Mutationen mit der Überlebenszeit. Die Autoren entwickelten auf dieser Basis einen Score, der Patienten mit guter, mittlerer, schlechter und sehr schlechter Prognose deutlich besser trennte als das bisherige International Prognostic Scoring System (IPSS).

Rascher zur gezielten Therapie
Dieses Ergebnis ist aus diagnostischen und therapeutischen Gründen bedeutsam, denn genomische Profile sind im Begriff, die traditionelle Stufen­diagnostik in puncto Geschwindigkeit, Aussagekraft und Preis zu überholen, sodass gerade bei akut verlaufenden Erkrankungen wie der AML künftig rascher als bisher die richtigen Entscheidungen über eine gezielte, maßgeschneiderte Behandlung gefällt werden könnten.



Companion Diagnostics (CDX): Bei hämatologischen Malignomen gibt es derzeit erst drei Biomarker, deren Nachweis für den Einsatz der genannten Wirkstoffe verpflichtend ist. Ihre Zahl wird in den nächsten Jahren rasch steigen. ALCL = Anaplastic Large Cell Lymphoma, ALL = Akute lymphatische Leukämie, APL = Akute Promyelozyten-Leukämie, CML = Chronische myeloische Leukämie

Noch sind die Genotypen, für die es molekularbiologisch definierte Medikamente gibt, an den Fingern abzuzählen, und verpflichtend vorgeschrieben ist deren Bestimmung nur für sieben Wirkstoffe (siehe Tabelle). Doch das will angesichts der rasanten Fortschritte der molekularen Onkologie nichts besagen. Volle vierzig Jahre dauerte es nach der Entdeckung des Philadelphia-Chromosoms, bis mit Imatinib das erste spezifische Medikament für CML-Patienten mit einer BCR-ABL-Mutation auf den Markt kam. Inzwischen wird bereits jedes zweite Krebsmedikament auf Basis derartiger Biomarker entwickelt. 

Prof. Dr. med. Georg Hoffmann, Franziska Draeger, Josef Gulden (Mitglieder der Redaktion)

[1] Haferlach T et al. Landscape of genetic lesisons in 944 patients with myelodysplastic syndromes. Leukemia 2013; doi:10.1038/leu.2013.336