Kapillarblutentnahmesysteme: Vom Vampir zum Patientenliebling

Mit Systemen für eine schmerzfreie Blutentnahme können kleine Mengen von Blut ohne Gefäßpunktion sicher und einfach entnommen werden. Der Einsatz durch Patient:innen selbst oder durch ungeschultes Personal eröffnet neue Perspektiven und kann trotz schwindender finanzieller und personeller Ressourcen einen wichtigen Beitrag zur bezahlbaren Vollversorgung leisten.

Schlüsselwörter: Direct to Consumer Testing (DTCT), Home-based Blood Sampling, POCT

Im Labor werden auch Urin, Stuhl, Liquor und andere Körperflüssigkeiten wie Aszites oder Abstriche untersucht – aber der überwiegende Anteil an Labor­ergebnissen wird aus Blut generiert. Dabei ist die venöse Blutabnahme von Serum, EDTA-Plasma und Citratplasma häufig der Standard. Wenn jeweils ca. 5 ml abgenommen werden, kommen pro Blutabnahme schon mal 15 ml zusammen. In der Klinik, insbesondere bei Patient:innen auf der Intensivstation, kann die Blutabnahme für die Diagnostik nicht selten zur Transfusionspflichtigkeit führen [1]. Seit jeher wird versucht, die „Vampire“ in die Schranken zu weisen und Abnahmesysteme für kleinere Mengen einzuführen.

Patient Blood Management (PBM) versucht hier systematisch und mit Nachdruck, die Blutabnahmemengen zu reduzieren. Kleinere Röhrchen, weniger Verwurf – z. B. bei der arteriellen Abnahme aus dem liegenden Katheter – und seltenere Blutabnahmen sind ein erster Schritt.

Und das Labor? Auch hier wird kontinuierlich versucht, das benötigte Blutvolumen, bestehend aus Totvolumen und Testvolumen, zu reduzieren. Noch sind die klassischen Analysesysteme, die meist mit Nasschemie arbeiten, weit davon entfernt, Kapillarblut routinemäßig und im Hochdurchsatz zu bearbeiten. Ein guter Stich mit der Lanzette bringt meist ohne große Probleme 100 µl, professionell abgenommen auch 200 bis 300 µl. Allerdings kann diese Abnahmemethode durch zu viel Quetschen zu einer Verdünnung des Blutes und dadurch zu Laborfehlern führen. Zudem sind zu tiefe Stiche sind für die Betroffenen schmerzhaft. 

Wenige Tropfen Blut reichen zum Bestücken der Karten für Trockenblutanalytik (Dried Blood Spot, DBS). Tatsächlich hat sich diese Art der Kapillarblutabnahme und -asservierung seit vielen Jahren sehr bewährt, v. a. beim Neugeborenenscreening. Ein zusätzlicher Vorteil ist der einfache Versand und die lange Stabilität vieler Biomarker im getrockneten Blut. Die Laboranalytik daraus muss validiert werden und ist meist auf bestimmte Analysegeräte (z. B. Massenspektrometrie) und Analyten beschränkt.

Auf beiden Seiten der Blutanalytik, also bei der Blutgewinnung und der Labor­analyse, gibt es noch viel Spielraum zur Optimierung.

 

Neue schmerzfreie Blutabnahme­systeme

Zwei Systeme zur schmerzfreien Blut­entnahme sind bereits auf dem Markt. Sie sind CE-zertifiziert und haben eine FDA Clearance; ein drittes System ist in der Endphase zur Marktreife.

Diese Blutentnahmesysteme sind dafür konzipiert, kleine Mengen von Blut sicher und einfach zu entnehmen – ohne Gefäßpunktion und damit ohne Punktionsnadel. Sie werden z. B. am Oberarm auf der Hautoberfläche platziert und durch eine sanfte Vakuumtechnologie fixiert. Bei einer der Methoden werden Mikronadeln in die Haut gedrückt, sodass dann auch mithilfe des Vakuums ausreichend Blut aspiriert werden kann.

Die Systeme ermöglichen eine einfache Selbstentnahme von Blutproben, mit denen dann verschiedene Tests, Analysen und Gesundheitsuntersuchungen durchgeführt werden können. Die nadelfreien Blutentnahmesysteme erfordern kein professionelles medizinisches Personal und können daher in verschiedenen Umgebungen verwendet werden. Das erhöht die Zugänglichkeit und Benutzerfreundlichkeit. Im Gegensatz zur klassischen Kapillarblutabnahme können hier größere Blutmengen von 300 µl bis 1 ml problemlos gewonnen werden, und das ohne Quetschen und Drücken und damit auch ohne Verdünnungseffekte durch Gewebeflüssigkeit. So ist zumindest das Versprechen der Hersteller und dies spiegeln auch die ersten veröffentlichten Vergleichsergebnisse und erste eigene Testergebnisse wider [2].

Der Autor konnte alle drei Systeme vergleichend mit klassischer Kapillarblutabnahme  und venöser Blutentnahme testen und war auf Anhieb begeistert. Die Abnahme war einfach, praktisch schmerzfrei und in allen Fällen erfolgreich. Die Bestimmung einiger qualitativer und v. a. quantitativer Biomarker war im Vergleich zu den Ergebnissen aus der venösen Blutentnahme weitgehend sehr gut und sowohl vom Handling als auch von den Ergebnissen der klassischen Kapillarblutabnahme weit überlegen. Insbesondere für die Selbstabnahme ist das ein erheblicher Fortschritt.

Theranos 2.0 – voraus in die Vergangenheit

Die jüngste Selfmade-Milliardärin bisher war Elisabeth Holmes – und hier ist tatsächlich die erste weibliche Milliardärin gemeint. Sie gründete 2004 in den USA das Unternehmen Theranos. Eine Firma, die mit dem Versprechen auf den Markt ging, 70 Biomarker – später sogar 300 –  aus einem Tropfen Blut zu bestimmen. Sie konnte mit Slogans wie „Ein winziger Tropfen ändert alles“ oder „Der Labortest – neu erfunden“ auf dem Höhepunkt ihrer Karriere zehn Milliarden Dollar einwerben. Grundstein war, wie sie immer wieder betonte, ihre Angst vor der venösen Blutabnahme.

Das ist ein klarer Hinweis darauf, dass ein Bedarf für eine Blutanalytik existiert, die mehr auf die Patient:innen eingeht. Auch wenn in diesem Fall der Versuch gescheitert ist: Frau Holmes wurde zu über zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Das Gerät, das sie entwickelt hatte, funktionierte nicht und die klassische Kapillarblutabnahme konnte nicht ausreichend standardisiert werden.

Aber: Auch die ersten Geräte mit Touchscreen waren ein Fehlschlag und doch haben die Smartphones die Welt verändert. Ebenso haben sie klassische Handy-Hersteller, die am Alten festgehalten hatten, zum Beispiel Nokia, in den Ruin getrieben. Steht uns Laboren mit den Nachfolgesys­temen zur Umsetzung der Theranos-Idee eine ähnliche Entwicklung ins Haus?

 

Indikationen

Die neuen Blutabnahmesysteme haben nicht nur den Vorteil, dass die Abnahme (fast) schmerzfrei erfolgt, sie sind auch durch Laien bedienbar. Damit sind sie ideal für die Blutabnahme zu Hause (Home-based Blood Sampling). Da bietet es sich geradezu an, den DTC(Direct To Consumer)-Markt damit zu bedienen. Der DTC-Markt wird jedoch von vielen Laboren kritisch gesehen [3].

Bislang beschränkte sich das DTC v. a. auf Untersuchungen aus nicht-invasiv gewonnenen Körperflüssigkeiten wie Urin, Stuhl oder Speichel; nun können neue Systeme zur schmerzfreien Blutentnahme durch Laien auch die klassische Laboratoriumsdiagnostik der Selbsttestung zugänglich machen. Bedienten also DTC-Tests bisher eher Lifestyle-Diagnostik und nur einen Nischenmarkt in der klassischen Labormedizin, so könnte mit ausreichendem, standardisiert und fast schmerzfrei gewonnenem Blut nahezu die gesamte labormedizinische Diagnostik abgedeckt werden.

Neben der Verwendung in der DTC-Diagnostik ergeben sich noch viele weitere Anwendungsgebiete, auch in der klassischen Labormedizin. So kann Blut für Kontrolluntersuchungen in Klinischen Studien oder im Verlauf kontrollbedürftiger Therapien von den Patient:innen zu Hause abgenommen (Home-based Blood Sampling) und mit der Post ins Labor geschickt werden. Dabei steht die professionelle Analytik und Interpretation der Ergebnisse durch akkreditierte Labore und Laborärzt:innen außer Frage. Weitere Anwendungen im professionellen Umfeld der Medizin sind denkbar. Für Kontrolluntersuchungen von Laborwerten im Pflegeheim müsste nicht mehr der Hausarzt oder die Hausärztin kommen oder im schlimmsten Fall die Bewohner:innen mit dem Rettungsdienst in die Praxis oder Klinik gebracht werden. Das Pflegepersonal könnte das Blut abnehmen, auch wenn es die Venenpunktion nicht gelernt hat, sich dabei unsicher fühlt, die zu behandelnde Person sehr schlechte Venen hat oder, wie Fr. Holmes, einfach Angst vor der venösen Blutabnahme hat.

 

Hochdurchsatzlabor mit POC-Tests und -Geräten?

Die aktuell modernsten Hochdurchsatzlabore arbeiten mit bidirektional an die Labor-IT angeschlossenen Geräten mit Random-Access-Probenverarbeitung. Modulare Geräte, die durch Roboter bestückt werden, oder an Straßen angeschlossene Analysegeräte verarbeiten 90 % der Proben – aber nur wenn die Proben in ausreichend gefüllten Blutröhrchen mit meist 7 ml Blut für Serum, 3 ml Blut für EDTA-Plasma und 3 ml Blut für Citrat-Plasma im Labor ankommen. Serum oder alternativ Heparin-Plasma für die Klinische Chemie und Citrat-Plasma für die Gerinnungsanalytik müssen noch zentrifugiert werden, bevor sie an die Geräte oder auf die Straße verteilt werden.

Bei der Verarbeitung kleinerer Blutvolumina, wie sie z. B. auch jetzt schon aus der Neonatologie oder Pädiatrie kommen, stößt das selten auf große Begeisterung, denn es gibt keine Standardröhrchen und meist können die Geräte durch den geringen Serumüberstand nicht direkt bestückt werden. Dies bedeutet wiederum mehr Hands-on-Zeit für die chronisch unterbesetzte MTL-Mannschaft. Bei kranken Kindern ist man ja noch einsatzbereit – aber für DTC von eigentlich Gesunden? Das muss anders gehen.

Will man zumindest die wichtigsten Laborparameter für das Notfalllabor der peripher angeschlossenen Klinik mit POCT-Geräten abdecken, muss man einen Gerätepark aufstellen. Dies bedeutet meist, dass weder eine automatische Probenverteilung noch Random Access und kaum eine bidirektionale IT-Anbindung möglich sind [4](Abb. 2).

Auch das muss anders gehen.

Interessanterweise stehen gerade eine Reihe von Multiplex-Analysen bereits für kleine bis kleinste Blutmengen zur Verfügung, allen voran die (Tandem-)Massenspektrometrie, die aus wenigen Tropfen Blut (DBS) Hunderte von Werten generieren kann und sich im Routineeinsatz beim Neugeborenenscreening bewährt hat. Multiplex-Immunoassays kommen in der Allergiediagnostik zum Einsatz und benötigen ebenfalls nur wenige Mikroliter Blut für Hunderte von Allergenen. Für die klassische klinisch-chemische Diagnostik stehen für kleinste Blutmengen zwar Hochdurchsatzsysteme für Teststreifen zur Verfügung, haben sich aber – zumindest auf dem deutschen Markt – bisher nicht durchgesetzt. Noch gibt es ausreichend Blut von den Patient:innen.

 

Game Changer

Müssen wir als Labormediziner:innen vor diesen Entwicklungen Angst haben? Aus meiner Sicht: jein. Ja, es werden sich Änderungen in der bisher bekannten Laborlandschaft ergeben. Das drängt sich schon aus dem zunehmenden Mangel an medizinischem Fachpersonal und Finanzmitteln auf.

Neue Wege in der medizinischen Versorgung von Patient:innen müssen also gefunden werden. Da könnte man dem typischen staatlichen Denken folgen und nach mehr Geld und Personal schreien, oder der wissenschaftlich-wirtschaftlichen Denke folgen und mit weniger staatlichen Restriktionen der Innovation und Förderung privater „Medizinanbieter“ eine Chance geben.

Zusammen mit weiteren Formen der Fernbehandlung wie Telemedizin können die neuen Blutabnahmesysteme ein wichtiger Beitrag zur bezahlbaren Vollversorgung von Patient:innen werden – obwohl immer weniger Fachpersonal zur Verfügung steht und finanzielle Ressourcen schwinden. Insbesondere für Kontroll­untersuchungen könnten den Patient:innen weite Wege in die Arztpraxis erspart bleiben und auch in Pflegeheimen und bei häuslicher Pflege könnten Blutabnahmen für Untersuchungen z. B. zur Therapiekontrolle vor Ort durchgeführt werden. Noch sind die neuen Abnahmesysteme zu teuer für eine weite Verbreitung und daher beschränkt auf Bereiche, in denen per se schon hohe Kosten anfallen. Im Rahmen von klinischen Studien haben sich die Systeme aber bereits bewährt [5] und warten hier auch mit einem guten „Preis-Leistungsverhältnis“ auf.

Blutabnahme zu Hause oder im Pflegeheim und Versand ins Labor und Analyse an vorhandenen Großgeräten wäre also der erste Schritt. Im nächsten Schritt liegt es an den Geräteherstellern, nicht nur die Blutabnahme durch Patient:innen zu ermöglichen, sondern mit kleinen, einfach zu bedienenden POCT-Geräten, die das nötige oder womöglich komplette Laborspektrum abdecken, auch die Analytik vor Ort im Pflegeheim, der kleinen Klinik ohne Labor oder in der Nacht, wenn das Labor nicht besetzt ist, zu ermöglichen und auch der Arztpraxis anzubieten. Wer wagt Theranos 2.0?  

 

Conflict of Interest: Prof. Dr. Rudolf Gruber ist Mitglied des medizinischen Beirats von Wellster Healthtech.

 

Autor
Prof. Dr. med. Rudolf Gruber
Mitglied der Redaktion
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