Wie vermisst man das Darmmikrobiom?

Aus dem Labor

Sequenz-basierte Analyseverfahren haben der Mikrobiomforschung in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem eindrucksvollen Aufschwung verholfen. Hochdurchsatz-Sequenzierungen von amplifizierten Markergenen (16S-rRNA) und Gesamt-Isolaten von Nukleinsäuren (Metagenom) aus menschlichen und tierischen Proben haben umfangreiche Einblicke in die taxonomische und funktionelle Zusammensetzung des Darmmikrobioms geliefert. Gleichzeitig werden zunehmend die Limitierungen rein deskriptiver Verfahren deutlich, die einem besseren Verständnis mikrobieller Wirts-Interaktionen noch im Wege stehen. Im Folgenden sollen generelle Prinzipien verbreiteter Verfahren der Mikrobiomanalyse durch molekulare und Kultur-basierte Verfahren beschrieben und deren aktuelle Probleme und Chancen für die Zukunft erläutert werden.

Schlüsselwörter: Molekulare und kulturbasierte Verfahren, gezielte Charakterisierung und Profiling, Referenz­datenbanken, Standardisierung

Einleitung

Alle Populationen an interagierenden Mikroorganismen in einem bestimmten Habitat werden als Mikrobiota bezeichnet. Zusammen mit deren Genomen (das sogenannte Metagenom) und umliegenden Faktoren (z. B. Metaboliten) redet man über Mikrobiom [1]. Die enormen Entwicklungen im Bereich der molekularen Analyse mikrobieller Populationen haben wichtige Einblicke in die Bedeutung des Darmmikrobioms ermöglicht. Aufgrund des überwiegend deskriptiven Charakters vieler Mikrobiomstudien bleiben allerdings funktionelle Zusammenhänge der Interaktion zwischen Mikrobiom und Wirt ebenso wie die zugrunde liegenden molekularen Mechanismen dieser Interaktion noch weitgehend unerforscht [2]. Die Identifizierung, Isolierung und Charakterisierung physiologisch relevanter Bakterienstämme unseres Darmmikrobioms stellen hierbei eine Voraussetzung für die Entwicklung und Implementierung erfolgreicher mi­krobieller Therapiestrategien für die Zukunft dar. In den folgenden Abschnitten beschreiben wir zentrale Methoden, die zur Vermessung des Mikrobioms eingesetzt werden, und erläutern deren jeweilige Vor- und Nachteile.

Überblick über zentrale Methoden in der Mikrobiomforschung

Prinzipiell lassen sich die zurzeit am häufigsten verwendeten wissenschaftlichen Methoden zur Analyse von Mikrobiomen in zwei Kategorien zuordnen: molekulare und kulturbasierte Verfahren. Diese Methoden und ihre Herausforderungen sind in Abb. 1 dargestellt.
Die molekularbiologischen Methoden umfassen alle Technologien, die grundsätzlich auf der Analyse molekularer Strukturen, wie z. B. DNA, RNA, Proteinen oder Metaboliten, basieren [3]. Diese Methoden können entweder 1) gezielt angewandt werden, d. h. in Bezug auf die Anwesenheit einzelner, ausgewählter Spezies bzw. phylogenetisch einheitlicher Gruppen, z. B. durch In-situ-Hybridisierung, oder die Expression spezifischer Gene, z. B. durch quantitative Real-time PCR, oder 2) es wird über sogenannte Profiling-Methoden die Zusammensetzung aller vorhandenen Spezies bzw. das Auftreten oder sogar die Expression aller mikrobiellen Gene in einer Probe insgesamt erfasst. Für die letztere Kategorie macht man sich entweder das universelle Vorkommen von Markergenen (z. B. das häufig verwendete ribosomale 16S-rRNA-Gen) zunutze oder analysiert ungezielt die Gesamtheit aller in der Probe vorkommenden Nukleinsäure-Moleküle bzw. Proteine oder Metaboliten. Nach diesem Prinzip lassen sich folgende vereinfachte Definitionen ableiten:
16S-rRNA-Gensequenzierung: Das 16S-rRNA-Gen ist ein evolutionär konserviertes Molekül, welches für die Identifizierung und Klassifizierung von Mi­kro­organismen (Bakterien und Archaeen) eingesetzt wird. Mithilfe von Hochdurchsatzsequenzierungsmethoden kann die Analyse von 16S-rRNA-Genfragmenten eine schnelle Übersicht über die Diversität und Zusammensetzung der Darmmikrobiota ermöglichen.
Metagenome und Metatranskriptom-Sequenzierung: Im Gegensatz zur gezielten Sequenzierung von einzelnen Genen wie dem 16S-rRNA-Gen kann die Sequenzierung der Gesamt-DNA (Metagenom) bzw. -RNA (Metatranskriptom) einer Probe auch Informatio­nen über das funktionelle Potenzial und eine bessere taxonomische Auflösung der Darmmikrobiota liefern.
Massenspektrometrie: Anhand der Messung molekularer Massen kann – neben Nukleinsäuren über die Massenspektrometrie – auch eine Analyse der Gesamt-Proteine (Proteom) oder -Metaboliten (Metabolom) als Hochdurchsatzanalyse durchgeführt und damit ein Einblick in die zu einem bestimmten Zeitpunkt tatsächlich exprimierte Funktionalität eines Mikrobioms gewährleistet werden.
Diese Analysen können häufig mit sehr hohem Durchsatz durchgeführt werden, was die Untersuchung einer großen Anzahl an Proben in relativ kurzer Zeit erlaubt und somit eine schnelle und umfassende Übersicht über Zusammensetzung, Diversität und Funktion der Darmmikrobiota ermöglicht [4]. Die Sequenzie­rung von 16S-rRNA-Genen kann heutzutage besonders schnell und kostengünstig durchgeführt werden, liefert jedoch ausschließlich Informationen über die Diversität und Zusammensetzung des Ökosystems und nicht über dessen funktionelles Potenzial [5]. Der Einsatz von molekularbiologischen Methoden ermöglicht die Detektion von Mikroorganismen unabhängig von ihrer Kultivierung durch konventionelle kulturbasierte Verfahren. Die Entwicklung von molekularbiologischen Methoden hat daher ganz entscheidend zu unserem Verständnis der Komplexität und Dynamik des mikrobiellen Ökosystems beigetragen [6]. Nach fast fünfzehn Jahren intensiver Anwendung der Hochdurchsatzsequenzierung zur Beschreibung von mikrobiellen Ökosystemen werden nun jedoch auch Nachteile dieser Methode ersichtlich (siehe weitere Abschnitte). Aufgrund dieser Probleme rücken heute wieder kulturbasierte Methoden in den Vordergrund, die komplementär zu Sequenz-basierten Verfahren ein umfassenderes Verständnis des Mi­krobioms ermöglichen.
Der größte Vorteil der erfolgreichen Kultivierung neuer Mikroorganismen liegt darin, dass nur über diese Methode eine detaillierte Charakterisierung der Eigenschaften dieser Mikroorganismen möglich ist [7]. Es können sowohl das Genom als auch die Stoffwechselprodukte und Zellbestandteile sowie funktionelle Eigenschaften, wie z. B. eine Antibiotikaresistenz einzelner bakterieller Stämme, identifiziert werden. Auf der Basis dieser Analysen kann dann die taxonomische Beschreibung von neuen Arten erfolgen. Der Einsatz von isolierten, kultivierbaren Mikroorganismen in Zellkultur oder Tierexperimenten kann zudem entscheidend zur Entschlüsselung grundlegender Mechanismen der Interaktion zwischen Mikroben und Wirt bzw. zwischen Mikroorganismen untereinander beitragen. Die erfolgreiche Kultivierung der vielfältigen Mikroorganismen aus unserem Darm ist daher eine Voraussetzung für ein besseres Verständnis ihrer jeweiligen physiologischen Relevanz sowie für die Verbesserung der existierenden Referenzdatenbanken [8, 9].
Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die molekularbiologische Mikrobiom-Analytik einen schnellen und umfassenden Überblick über die Diversität und die Zusammensetzung eines Mikrobioms ermöglicht. Dieser bleibt in den meisten Fällen jedoch deskriptiv. Zur Aufklärung von Mikroben-Wirts-Interaktionen ist eine erfolgreiche Isolierung und Kultivierung von Spezies der Darmmikrobiota notwendig. Viele der Darmbakterien sind jedoch außerhalb des Darms unter Laborbedingungen nur schwer zu kultivieren. In den weiteren Abschnitten werden wir die wesentlichen Herausforderungen erläutern, die in Zukunft bewältigt werden müssen, um eine genauere Vermessung des Mikrobioms zu ermöglichen.

Hoher Standardisierungs- bzw. Ausbildungsbedarf

Molekularbiologische Methoden (basierend auf DNA, RNA, Protein oder Metaboliten) erlauben die schnelle Vermessung von spezifischen Spezies oder des gesamten Ökosystems und sind damit sehr wertvoll für die Untersuchung des Darmmikrobioms. In den letzten Jahren ist jedoch klargeworden, dass die Genauigkeit und Reproduzierbarkeit dieser Methoden eingeschränkt ist. Der Mangel an Standardisierung erschwert den Vergleich von Forschungsergebnissen [13]. Die Vergleichbarkeit der Zusammensetzung ist jedoch insbesondere auch für einen Übergang in die medizinisch-diagnostische Anwendung essenziell, da methodisch bedingte Veränderungen zu falschen Rückschlüssen und therapeutischen Interventionen führen könnten. Während es utopisch und auch nicht wünschenswert wäre, dass alle Labore weltweit identische Analyseprotokolle verwenden, ist es höchst notwendig, dass Anwender vernünftig ausgebildet werden, um die Generierung falscher Daten und entsprechender Schlussfolgerungen zu vermeiden. Hierfür ist auch die Weiterentwicklung und das Mitführen von Prozesskontrollen zur Überprüfung aller Schritte der umfangreichen Analytik essenziell.

Original- und Metadaten bzw. Mikroorganismen müssen archiviert und verfügbar sein

Eine große Herausforderung ist die Archivierung und Verwertung der großen Mengen an Daten, die durch unabhängige Sequenzierungsprojekte weltweit generiert werden. Im besten Fall werden diese Daten bei Veröffentlichung in spezifischen und internationalen Datenbanken (z. B. www.ebi.ac.uk/ena) deponiert. Die Beschreibung der verwendeten Proben ist aber meist von unzureichender Qualität, was die Verwertung der Daten durch Metaanalysen erschwert. Dadurch entsteht ein erheblicher Verlust an biologischen Erkenntnissen. Dazu werden mehr bioinformatische Ansätze zu integrativen Analysen von deponierten Sequenzdaten benötigt [14, 15]. Ebenso sind gute Lösungen zur Integration von klinischen Daten zusammen mit methodischen Details und umfangreichen „omics“-Datensätzen im Moment nicht ausreichend entwickelt oder in Biobanken implementiert, wofür auch gut ausgebildetes, fachlich kompetentes Personal (z. B. Bioinformatik- und Informatik-Spezialisten) dringend benötigt wird.
Darüber hinaus sind die Referenzdatenbanken, die z. B. rRNA-Gensequenzen oder Genome bekannter Organismen enthalten, unvollständig. Als Konsequenz daraus kann bis dato nur ein Bruchteil der Hochdurchfluss-Sequenzierungsdaten interpretiert werden. Die Erweiterung dieser Referenzendatenbanken ist auf den erfolgreichen Einsatz kulturbasierter Methoden angewiesen. Für die Kultur vieler Darmbakterien ist der Einsatz von anaeroben Techniken notwendig [16]. Leider sind Isolate aus früheren Forschungsarbeiten heute häufig nicht in Stammsammlungen hinterlegt oder nicht mehr kultivierbar. Es ist mittlerweile auch bekannt, dass in Personen aus Industrienationen ein regelrechtes Artensterben im Mikrobiom stattgefunden hat und weiter anhält. Dieses stellt einen erheblichen Verlust an wertvollen Ressourcen von Diversität und biologischen Informationen dar. Die Kultivierung und die anschließende Beschreibung sowie Archivierung dieser Spezies ist eine Grundvoraussetzung für die Untersuchung ihrer physiologischen Relevanz, was heutzutage durch zahlreiche einzelne Forschungsarbeiten weltweit und auch durch größere internationale Initiativen (z. B. microbiomeconservancy.org) mühsam durchgeführt wird.

Herausforderung und zukünftige Entwicklungen

In den letzten fünfzehn Jahren wurden so viele Daten über das Darmmikrobiom und seine Interaktionen mit Wirtsorganismen gesammelt wie noch nie zuvor. Trotzdem bleibt unser Verständnis des intestinalen Ökosystems in weiten Teilen lückenhaft. Wichtige Aufgaben für die Zukunft bleiben die umfassende Isolierung und Charakterisierung neuer mikrobieller Spezies und einzelner, individueller Stämme, die Etablierung von Referenzdatenbanken mit hochwertiger Qualität der Metadaten, und eine Steigerung des Bewusstseins von Schwächen und Stärken der verwendeten Methoden. Genauso essenziell wird der Wandel von beschreibenden zu funktionellen Studien sein. Wegweisende, zukünftige Projekte sollten darauf ausgerichtet sein, mikrobielle Mechanismen zur Regulierung spezifischer Wirtsfunktionen zu identifizieren. Nur so werden wir die einzigartige Vielfalt unserer Darmmikroorganismen vollständig verstehen und in der Zukunft für die Entwicklung diagnostischer oder therapeutischer klinischer Anwendungen nutzen können.

Autoren
Prof. Dr. Thomas Clavel
Institute of Medical Microbiology,
Functional Microbiome Research Group, RWTH Aachen University, AachenZIEL Institute for Food and Health, Technical University of Munich, Freising
Prof. Dr. Florian Fricke
Microbiome and Applied Bioinformatics, University of Hohenheim
Stuttgart
Prof. Dr. Dr. André Gessner,
Dr. Andreas Hiergeist
Institute of Clinical Microbiology and Hygiene, University Hospital Regensburg